Ich war super gespannt auf diesen Roman, der schon so lange auf meiner Wunschliste stand. Und als kleiner Teaser vorab: ich fand „Propofol“ richtig toll, unterhaltsam und spannend.
Das Narkosemittel Propofol ist wahrscheinlich seit dem Tod von Michael Jackson für die meisten ein Begriff und die Risiken der Anwendung im, sagen wir mal, Privatgebrauch auch.
Dem Ich-Erzähler und Protagonisten von Corinna T. Sievers’ Roman sind diese Risiken allerdings egal. Er ist nämlich Chefchirurg einer Berliner Kinderklinik und hat somit leichten Zugang zu dem Mittel, dass er, neben allerlei anderen Substanzen, für seinen Privatgebrauch konsumiert.
Dieser Ich-Erzähler ist die Verkörperung und Übersteigerung dessen, was heute gerne als “älterer, weißer Mann” bezeichnen wird: ein misogynes Ar…loch. Sievers schlüpft komplett in seine Perspektive und seine Gedankenwelt.
Frauen bewertet er rein nach ihrer Fuckabilit. Er ist genervt, dass selbst in der Männerdomäne der Chirurgie mittlerweile manchmal eine studierte Frau auftaucht. Emotional ist er natürlich unterentwickelt und betäubt die spärlichen Reste seiner Gefühlswelt und die Angst vor dem Älterwerden mit Propofol.
Propofol als Mittel gegen die Angst
Sein medizinisches Spezialgebiet ist die operative Trennung von siamesischen Zwillingen und gerade ist in der Kinderklinik ein kompliziert miteinander verwachsenes Zwillingspaar angekommen, deren Trennung das Meisterstück seiner Karriere wäre.
Das bei dem Eingriff oder danach irgendwas katastrophal schief gelaufen sein muss, erfahre ich durch eine zweite Zeitebene, in der der Erzähler scheinbar unehrenhaft aus dem Klinikbetrieb entlassen wurde.
Corinna T. Sievers ist selbst promovierte Zahnmedizinerin und das merkst du ihrem Roman erfreulicherweise auch an. Mir gefallen die detailreichen Beschreibungen der geplanten komplizierten Operation und die Einblicke in den Krankenhausbetrieb. Dass dort, besonders in der Chirurgie, noch struktureller Sexismus und toxische Hierarchien weit verbreitet sind, ist kein Geheimnis und spiegelt sich auch in Sievers Roman wider.
Auch die kritische Beleuchtung der ethischen Fragen, die bei der Trennung der Zwillinge auftreten, finde ich superinteressant und toll im Roman umgesetzt.
Natürlich ist die Figur des Erzählers überzeichnet angelegt. Es fehlt ihr vielleicht ein bißchen an der ambivalenten psychologischen Tiefe, die ich den Männerfiguren von Heinz Strunk so gut dargestellt finde, aber das störte mich nicht unbedingt.
Ich fand, „Propofol“ ist wirklich ein unterhaltsamer und aufregend erzählter Roman, den ich super gerne gelesen habe!
Erschienen 2022 bei der Frankfurter Verlagsanstalt





Schreibe einen Kommentar