Es ist genau der Tag seines 18. Geburtstags und ein Sonntag im Jahr 1975, als Collin auf dem Box Hill wortwörtlich über sein weiteres Schicksal stolpert.
Der Box Hill ist in den Londoner Vororten ein bekannter Biker Treff, an dem die richtig coolen und harten Typen mit ihren Maschinen abhängen.
Der gerade volljährig gewordene Colin ist genau das Gegenteil, unsicher und dicklich, sexuell unerfahren, aber neugierig und suchend.
Als er am Box Hill über den Biker Ray stolpert, manifestiert sich sein Suchen und seine Wünsche in diesem Mann. Ray ist älter, überirdisch schön, unendlich cool und selbstbewusst.
“Jedenfalls konnte ich die Augen nicht von ihm lassen, so viel steht fest, aber wer hätte das an meiner Stelle schon gekonnt?”
Und das scheinbar Unfassbare geschieht. Der Halbgott Ray steigt vom Olymp und erkennt in dem unbeholfenen Colin irgendwas, das sein Interesse weckt. Er fordert ihn zu einem Blow Job auf. Colin kommt der nonverbalen Aufforderung ohne Zögern nach.
“Es war, als hätte Ray meinen Willen gelähmt, als er eine, vielleicht zwei Stunden zuvor mit dem Finger geschnipst hatte. Vielleicht war er Hypnotiseur.”
Von einer Stunde auf die andere beginnt für Colin das Leben an der Seite von Ray, das 6 Jahre lang dauern soll.
Mars-Jones schildert eine Beziehung zwischen zwei Männern, die auf einem enormen Alters- und Machtgefälle basiert und die klar sado-masochistisch geprägt ist.
“Es ging ihm nicht darum, auf seine Kosten zu kommen. Das Ganze hatte einen Grund. Er hat mich in Besitz genommen.”
Dabei beschreibt Mars-Jones das einseitige Abhängigkeitsverhältnis sehr nuanciert und arbeitet die Ambivalenzen der Beziehung deutlich heraus. Auf der einen Seite die Angst, die Macht und die Kontrolle, die von Ray ausgeht, auf der anderen Seite die vollkommenen Unterwerfung, aber auch Momente der Zugehörigkeit. In der Ich-Perspektive von Colin bekomme ich Einblick in seine Gefühlswelt, die von Minderwertigkeitskomplexen dominiert wird. Ray hat Gemeinsamkeiten mit seinem Vater. Zweifellos sind es auch diese Daddy Issues, die ihn zu Ray hinziehen.
Who is in total control?
Colin gibt bei Ray komplett die Verantwortung ab, wohnt bei ihm, wird als Besitz von ihm verwaltet.
Für Colin wird Ray wird ein unergründliches Enigma bleiben. Auch nach dem tragischen Ende der Beziehung wird Ray in seinem Leben jahrzehntelang zum blind spot.
Jetzt, wo ich über den nur 138 Seiten langen Roman schreibe, kann ich fast nicht glauben, wie viel Leben und Erfahrungen in diesen Seiten stecken. Mars-Jones schält nicht nur den Kern und das Leben seines Ich-Erzählers punktgenau heraus, sondern gibt nebenbei auch prägnante Einblicke in die Ehe von Colins‘ Eltern. In wenigen Sätzen skizziert er die innerfamiliären Beziehungen zwischen diesen drei Menschen und ihre Veränderungen im Laufe der Jahrzehnte.
Diese milderen Kapitel stehen im Kontrast zu den härten, körperlichen Passagen am Beginn des Romans, die ich in dieser sexuellen Selbstverständlichkeit selten lese. Und natürlich gefallen mir auch die Beschreibungen der queeren Bikerszene und deren unausgesprochenen aber komplexen Gesetzmäßigkeiten.
Die letzten Kapitel des Romans rühren mich mit den rückwärtsgerichteten, leicht nostalgischen Gedanken, mit denen Colin sein Zusammenleben mit Ray und die Veränderungen, denen wir und die ganze Gesellschaft zwangsläufig unterworfen sind, reflektiert.
“Vielleicht war Ray ein Ersatz für irgendetwas. Dennoch war er unersetzlich.”
„Box Hill“ war für mich unglaublich gehaltvoll und mehr als nur das interessante Porträt einer problematischen Beziehung. Es kommt ohne Anklage oder Abrechnung aus und bleibt so ohne Bitterkeit.
Aus dem Englischen von Gregor Runge
Ein großes Dankeschön an den Albino Verlag für das sehr gewünschte Rezensionsexemplar!
Schreibe einen Kommentar