Ich lese den französischen Schriftsteller Emmanuel Carrère sehr gerne und sein Roman „Der Widersacher“ steht schon lange auf meiner Wunschliste. Nachdem ich vor kurzem Kaleb Erdmanns „Die Ausweichschule“ gelesen hatte, in der sich der junge Autor mit den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des autofiktionalen Erzählens beschäftigt und dabei auch öfter die Arbeiten von Carrère anführt, war meine Neugier noch größer.
Zusätzlich beschäftigt mich seit längerem, wie über Verbrechen literarisch erzählt (und gelesen) werden kann, ohne in moralische Abgründe zu stürzen und ich habe einige Romane dazu gelesen. Die Antwort ist wahrscheinlich: gar nicht. Carrère selbst spricht in einem Gespräch mit der Übersetzerin Claudia Hamm selbst über seine Scham von derart schrecklichen Geschichten so fasziniert zu sein. Und von seiner anschließenden Erleichterung, als der Verkaufserfolg von „Der Widersacher“ ihm zeigte, dass es vielen Menschen so geht
“Man brauchte kein kranker oder verquälter Typ zu sein. Es reichte, ein Mensch und ein bisschen am Menschsein interessiert zu sein.”
Carrères Roman erschien erstmals 1999. Heute nach dem großen Boom von True Crime Formaten ist es wahrscheinliche keine Überraschung mehr, wie sehr uns Verbrechen und die Gründe aus denen sie begangen werden, interessieren und faszinieren.
Ist „Der Widersacher“ ein True Crime Roman?
Und sofort interessiert war eben auch Emmanuel Carrère, als er zum ersten Mal von dem Mann erfuhr, der erst seine Frau mit einem Nudelholz erschlug, dann seine zwei kleinen Kinder erschoß und danach zu seinen Eltern fuhr, um sie ebenfalls zu erschießen. Sein anschließender Versuch sich selbst zu töten war nur halbherzig und schlug fehl. Der Mann hatte im Vorfeld jahrzehntelang ein unglaubliches Lügenkonstrukt errichtet, in dem er angeblich erfolgreich Medizin studiert hatte und danach als renommierter und gut verdienender Arzt bei der WHO arbeitete. Als das Kartenhaus zu wackeln anfing und drohte einzustürzen, tötete er lieber seine Angehörigen, anstatt die Lügen zuzugeben. Er selbst nennt es nach langjähriger Gefängnisstrafe immer noch „eine fürchterliche Familientragödie“.
Seine anfänglichen Versuche sich diesem Verbrechen aus der Perspektive einer dritten Person zu nähern, wie es Truman Capote in „Kaltblütig“ gezeigt hat oder gar rein fiktional, konnten Carrère nicht überzeugen.
Nach mehreren Anläufen entschloss er sich, über Jean-Claude Romand aus der Ich-Perspektive zu schreiben in Form eines Tatsachenromans. Seine Recherchen, die Kontaktaufnahem mit Romand und sowie die Entstehungsgeschichte werden somit selbst Bestandteil des Romans.
Natürlich lese ich den Roman nicht nur aus Interesse daran, wie Carrère seinen dokumentarischen Roman umgesetzt hat, sondern ich bin auch vom Verbrechen selbst abgestoßen, entsetzt und dennoch fasziniert. Bei den eindringlichsten und wie live geschilderten Szenen aus dem Prozess fühle ich mich manchmal allerdings wie eine Voyeurin, es ist kein gutes Gefühl.
Für mich persönlich war „Der Widersacher“ definitiv ein Must-Read und ich möchte auf das sehr umfangreiche und bereichernde Gespräch zwischen Emmanuel Carrère und Claudia Hamm im Zuge der Neuübersetzung des Romans 2018 hinweisen, das im Anhang der Neuauflage zu finden ist.
Die Neuauflage erschien 2021 bei Matthes & Seitz Berlin.





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