Der Roman „Eine Chance ist ein höchstens spatzengroßer Vogel“ von Yulia Marfutova wird bereits vor seinem Erscheinen als Kandidat für einen Platz auf der Liste der Nominierungen für den Deutschen Buchpreis gehandelt.
Bereits der erste Roman „Der Himmel vor hundert Jahren“ der in Moskau geborenen Schriftstellerin war 2021 für den Buchpreis nominiert, was immer eine gewisse Aufmerksamkeit für den Nachfolgeroman garantiert.
Nach der Lektüre von „Eine Chance ist ein höchstens spatzengroßer Vogel“ kann ich mir eine Nominierung auch gut vorstellen, was aber nicht heißt, dass der Roman für mich ein Highlight war. Die Buchpreisnominierungen passen nicht immer mit meinem persönlichen Geschmack zusammen und das ist wahrscheinlich auch gut so.
Auch in ihrem zweiten Roman kehrt Marfutova in das Land ihrer Geburt zurück. Sie spannt einen Bogen von der Vergangenheit von der jungen Marina und ihrer Mutter Nina, die in der Sowjetunion leben, bis in die Gegenwart, in der Marina das Land längst verlassen hat und eine Familie gegründet hat. Heute fragen sich Marinas Töchter nach der Geschichte ihrer Mutter und nach der ihrer Großmutter, die sie nie kennengelernt haben, genauso wenig wie die Heimat ihrer Mutter.
„Wir sind siebzehn, sechzehn und zehn und haben im Geschichtsunterricht nicht gelernt, was wir jetzt gerne wüssten.“
Vieles aus der Vergangenheit liegt für die Töchter im Dunkeln, und nur die Mäuse, die Marfutova wie einen roten Faden durch den Roman zieht, unterstützen durch eine zusätzliche Erzählperspektive.
Eine Chance ist ein höchstens spatzengroßer Vogel
Diese Mäuse wirken dabei fast wie ein märchenhafter Chor , wie Beobachterinnen und Kommentatorinnen, die eine andere, magisch-realistische Erzählebene öffnen.
„Alle Familiengeschichten sind Mäusegeschichten. Wer soll sie sonst erzählen, die Geschichten, wenn nicht die Mäuse, die sich so schmal machen können, dass sie durch die kleinsten Ritzen gelangen?“
Ich finde, dass der ganze Roman durchdrungen ist von geisterhaften Fäden, die alles miteinander verweben. Vieles aus der Ninas und Marinas Geschichte, aber auch aus der Geschichte der sowjetischen Ukraine deutet Marfutova nur an. Wie beispielsweise den Holdomor, der sich als Völkermord in Form einer herbeigeführten Hungerkatatstrphe tief im das (Unter-) Bewusstsein der Überlebenden eingebrannt hat.
So entsteht ein Text, der die Fragilität von Erinnerung ebenso auslotet wie die unsichtbaren Verbindungen zwischen persönlicher und politischer Geschichte.
Dazwischen stellt Marfutova die Frage, wie unsere Identität in der Gegenwart von unserer Identität aus der Vergangenheit zusammenhängt und sich gegenseitig beeinflusst.
„Unsere Mutter von heute und die Marina von früher, die unzähligen Marinas von früher, denn niemand ist nur eine einzige Person im Leben, nun, zwischen ihnen liegen Welten, grundverschiedene Menschen sind das, und doch zieht sich ein silbrig dünner Faden zwischen ihnen, eine nahezu unsichtbare Verbindung.“
Und natürlich geht es, wie der poetische Romantitel schon verrät, auch um Chancen und um die ewig Frage: Was wäre wenn….
Wahrscheinlich geht es auch noch um viel mehr in diesem Roman, der viele Interpretationsansätze bereit hält. Gerade der sagenhaft anmutenden magischen Realismus von Marfutovas Erzählstil öffnet viel Raum für Deutungsansätze.
Mir persönlich fielen gerade diese Deutungen nicht leicht. Gerade die vielverwendeten Mäuse haben es mir einigermaßen schwergemacht, zu dem Text eine Verbindung aufzubauen und wirklich einzusteigen.
Meine Annäherung an den Roman und an diese Rezension war eine intellektuelle und keine emotionale.
Ich freue mich sehr darauf, den Roman in den Diskussionen hier und im Feuilleton zu verfolgen! Lass auch gerne deine Meinung in den Kommentaren da.
Vielen lieben Dank an den Rowohlt Verlag für dieses wunderschöne Rezensionsexemplar. Danke und viel Erfolg an Yulia Marfutova für ihren Roman!
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