Liest du gerne historische Romane? Wenn du hier zögernd antworten würdest, weil du, so wie ich, gewisse Vorbehalten gegenüber dem Genre hast, kannst du trotzdem einfach weiterlesen. Denn der Roman „Grace“ des vielfach ausgezeichnete irischen Schriftsteller Paul Lynch glänzt mit literarischem Anspruch und emotionalem Tiefgang.
„Grace“ ist ein Manifest des Elends in Irland während der großen Hungersnot im 19. Jahrhunderts.
Zu Beginn des Romans ist Grace gerade 14 und lebt mit ihrer Mutter und ihren zahlreichen kleineren Geschwistern in der infrastrukturell schwachen Region im Norden Irrlands. Die Familie kämpft ums Überleben. Um ihrer ältesten Tochter wenigsten eine kleine Perspektive zu geben, schneidet ihr die Mutter die Haare ab und steckt sie in Jungenkleidung.
Grace wird weggeschickt, um auf eigene Faust ihr Überleben zu sichern.
Was sich dann anschließt ist eine Odyssee durch ein verlorenes und von Hunger gezeichnetes Irrland.
Der Kampf ums Überleben, Not und Tod regieren weite Landstriche des Landes.
Die Menschen, denen Grace begegnet, sind auf das Stillen ihrer rudimentären Bedürfnisse konzentriert. Für Nächstenliebe und Mitmenschliches bleibt keine Energie. Resignation herrscht vor, wo der Lebenswille erschlafft ist.
„Das Land verhungert. Die Welt geht zum Teufel. Die alten Zeiten sind vorbei“
Zukunft oder Vergangenheit
Grace wandert durch eine dystopisch anmutende Welt, durch verwüstete und entmenschlichte Landschaften. Die von Lynch geschilderten Zustände sind ähnlich trostlos und aussichtslos wie in „Die Straße“ von McCormack.
Ich begleite Grace auf ihren Stationen, schließe Bekanntschaften und verliere sie wieder. Ich verfolge wie Grace älter wird und wie sich ihr einst kindliches Herz erwachsen werden muss und verhärtet. Ich durchlebe die Sehnsucht nach ihrer Mutter, nach einem Bruder und höre ihre innere Stimme.
Sprachlich gibt Lynch der Not und den menschlichen Abgründen einen meisterhaften Ausdruck. Er schreibt detailreich, bildgewaltig und im absolut authentisch im zeitgemäßen Sprachsound. Ich vermute, hier hat die Übersetzerin Christa Schuenke ganze Arbeit geleistet.
Trotz dieser hohen literarischen Qualität kann aber nicht leugnen, dass es für mich auf den 550 Seiten einige Längen gab, die sich teilweise hinzogen. Und ein, zwei Erlebnisstränge weniger hätten mir vermutlich gereicht. Auf der anderen Seite intensiviert Paul Lynch so natürlich die Nähe zu Grace und ich schließe sie sehr ins Herz.
So wird mein Durchhalten in den letzten Kapiteln mit einem ergreifenden, wirklich tiefgehenden, und viele Emotionen umfassenden Schluss belohnt. So intensiv, und umfassend, wie ich ihn nur selten am Ende eines Romans empfinde.
„Wir haben über uns hundert Millionen Sonnen, und eine jede Sonne verblasst unter derselben grenzenlosen Sonne, die brennt im immerwährenden Mysterium.“
Der emotionale Schluss wiegt für mich als Vielleser*in die etwas zu langwierigen vorangegangenen Passagen auf. Reicht bei mir aber nur für eine eingeschränkte Weiterempfehlung.
Ein großes, vorweihnachtliches Dankeschön an den Verlag Freies Geistesleben, der meinen Lesewunsch mit einem Rezensionsexemplar erfüllt hat!
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