Das Leben der Gudrun Ensslin von Ingeborg Gleichauf
Als jüngerer Mensch war ich sehr von der Geschichte der RAF und dem Deutschen Herbst fasziniert. Mein Wissen darüber speiste sich damals hauptsächlich aus der Lektüre des Bestsellers von Spiegel Chefredakteurs Stefan Aust. Und hauptsächlich interessierte ich mich für die Menschen hinter der Terrorgruppe, allen voran Ulrike Meinhof. Sie, eine Frau, die eine Karriere hatte und gleichzeitig auch Mutter war, die Intellektuelle, die bürgerlich Gebildete, die von einem derart kompromisslosen Wunsch zu gesellschaftlichen Veränderung angetrieben war, dass es sie zum Bruch mit jeder Ethik und Moral bewegte, stand im Fokus meines Interesses.
Ensslin hingegen nahm ich kaum war, sie war in meiner Wahrnehmung nicht präsent, sie war die Freundin von. Auch in der Fachliteratur über die Gruppe wurde Ensslin oft als Pastorentochter und aus sexistischen Gründen nachlässig und verkürzt abgehandelt, wie Ingeborg Gleichauf in ihrer Biografie darlegt.
„Sich mit Gudrun Ensslin auseinanderzusetzen, heißt auch, sich mit Ensslin-Deutungen auseinanderzusetzen.“
Schon mit dem Roman „Erzählung zur Sache“ von Stephanie Bart, erschien letztes Jahr beim Secession Verlag eine überfällige literarische Auseinandersetzung mit der Person Gudrun Ensslins, dessen Lektüre ich allerdings nach der Hälfte auf unbestimmte Zeit vertagt hatte.
Für mich viel besser geeignet und lesbarer war tatsächlich Gleichaufs Biografie, die ich gefesselt und in einem Rutsch verschlungen habe.
Gleichauf beschreibt Ensslins Leben chronologisch anhand vorhandener Quellen, die gerade für ihre Kinderzeit und frühe Jugend nur sehr spärlich vorhanden sind.
Wie wurde aus der jungen Frau eine Terroristin?
Alle Menschen, die mit der jungen Ensslin zu tun hatten und nicht durch die nachfolgenden Ereignisse beeinflusst sind, erinnern sich an ein intelligentes, beliebtes und lebensfrohes Mädchen und später an eine integre junge Frau, die schulisch sehr diszipliniert und fokussiert arbeiten konnte.
Es ist eine Besonderheit in Gleichaufs Biografie, dass sie Gudrun Ensslins Leben vor allem in Bezug auf deren Verhältniss zur Literatur beschreibt. Ensslins war ihr Leben lang sehr literarisch interessiert, das Lesen und das Schreiben einer der Wichtigsten Konstanten in ihrem Leben.
Gleichauf geht auf das literarische Schreibtalent Ensslins ein, die sich während des Studiums sogar an Lyrik wagt. Leider sind diese Gedichte heute nirgendwo auffindbar. Gleichauf beschreibt auch, wie sich später Ensslins Denken und Schreiben in Haft und in der Vereinnahmung durch das Kollektiv teilweise auflösen wird.
Für mich war „Wem die Fragen nicht brennen“ über das Leben von Gudrun Ensslin eine sehr gelungene und absolut lesenswerte Biografie, die mein (nicht vorhandenes und falsches) Bild von Ensslin zurechtrückt und ergänzt.
Die brennenden Fragen nach dem Warum allerdings, sie brennen weiter.
“Gudrun Ensslin hätte Schriftstellerin werden können, Wissenschaftlerin, Musikerin, Journalistin, Lehrerin. Möglichkeitsspielräume waren da. Es ist anders gekommen. Und niemand kann genau sagen, warum. Das bleibt irritierend, beunruhigend.”
Vielen lieben Dank an den Aviva Verlag für das gewünschte Rezensionsexemplar. Danke und viel Erfolg an Ingeborg Gleichauf für das Buch!
Schreibe einen Kommentar