Zeit ihres Lebens von Dirk Gieselmann

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Zeit ihres Lebens Dirk Gieselmann Rezension

Mit dem Roman „Zeit ihres Lebens“ habe ich meinen üblichen Lesepfad, der gepflastert ist mit aufregender feministischer und zeitgenössischer Literatur, weit verlassen, ohne dass es mir vorher klar war.

Aber es hat sich für mich definitiv sehr gelohnt, am Ende von „Zeit ihres Lebens“ bin ich fast widerwillig sehr bewegt und gerührt.

Dirk Gieselmann erzählt in seinem zweiten Roman nach „Der Inselmann“ eine Liebesgeschichte, die sich über eine ganze Lebensspanne erstreckt.

Sie beginnt 1983 mit der zufälligen Begegnung zwischen Frieda und Georg, dem ein Zauber innewohnt. Beide wissen sofort, dieses kurze Zusammentreffen war etwas ganz besonderes.

“Er wusste es mit einem Mal, so wie alles Wissen plötzlich da ist: Etwas begann hier, und etwas anderes hörte auf.”

Gieselmann nimmt sich für die tastende Annäherung der beiden viel Zeit und beschreibt zart und einfühlsam das Verliebtsein der beiden.

Nur: Georg ist verheiratet, hat einen Sohn und ist als Vertretter immer wieder nur kurz zu Besuch in der Stadt, in der Frieda wohnt.

Auf Initiative von Frieda beschließen die beiden, ihre Liebe nicht zu realisieren und ihre alten Leben weiterzuführen.

Sie treffen sich über viele Jahre immer wenn George in der Stadt ist und telefonieren in schwierigen Lebenszeiten miteinander.

Währenddessen lebt Georg sein Leben mit seiner Frau weiter, die er längst nicht mehr liebt. Es ist ein ziemlich gewöhnliches Leben, an dem die Jahre vorüberziehen.

Auch Frieda lebt als alleinstehende Lehrerin gut, wenn auch nicht aufregend, hat ein ruhiges durchschnittliches Leben.

Genauso ruhig ist Gieselmanns Erzählstil, was den Roman für ich wie aus der Zeit gefallen wirken lässt. Seine Sprache ist sehr poetisch und gediegen und frei von modernen Anwandlungen. Ich würde nicht sagen, altmodisch sondern zeitlos.

Zeit ihres Lebens?

Durchaus altmodisch möchte ich aber die Geschlechterrollen nennen, die ich in Gieselmanns Geschichte finde. Mir fällt es einfach unangenehm auf, wenn einem verheiratetem Mann Masturbation zugeschrieben wird, es aber bei der alleinstehenden Frau keine Erwähnung findet. Oder wenn die Kleidung und das Aussehen von Frieda wesentlich öfter beschrieben wird, als bei Georg. Und es ist auch sicher kein erzähltechnischer Zufall, dass es der Mann ist, der eigentlich Frau und Kind hat und trotzdem fremdgeht, und nicht die Frau. 

Aber ich habe beim Lesen ziemlich schnell bemerkt, dass ich diese Kriterien hier nicht anwenden darf, wenn ich den Roman genießen möchte. Das möchte ich und ich folge Gieselmanns Einladung mich auf die Gedanken und Fragen zu fokussiert, die in seinem Roman im Vordergrund stehen.

Wie bewerte ich die Geschichte von Georg und Frieda? War ihre Liebe deswegen so groß, beständig und besonders, weil sie nie im Alltag bestehen musste?

Haben sie ihre Chance für ein außergewöhnlicheres Leben verpasst und sind im sumpfigen Mittelmaß versackt?

Hätten sie doch etwas wagen sollen?

Gerade zum Schluss hin entwickelt der Roman eine große Melancholie und Traurigkeit, die mich nicht kalt lässt und mein Fazit in Summe sehr positiv ausfallen lässt. Atmosphärisch hat mich der Roman ein bißchen an „Die Regenschirme von Cherbourg“ erinnert, vielleicht war es aber auch nur das Cover.

So fand ich letztendlich trotz meiner größeren, feministischen Kritikpunkte, dass „Zeit ihres Lebens“ ein sehr schöner und sehr lesenswerter Roman war, der bestimmt viele Leser*innen bewegen und berühren wird. 

  • Dirk Gieselmann
  • Zeit ihres Lebens Dirk Gieselmann Klappentext

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