Der Amoklauf von Erfurt erschütterte 2002 meine Welt. Bilder, die ich zuvor nur aus Amerika kannte, gab es plötzlich auch aus Deutschland und dann auch noch so nah.
Ich ging damals noch zur Schule und bereitete mich auf das Abitur vor. Eine Klassenkameradin von mir trug den gleichen Nachnamen wie der Schütze. Als das bekannt wurde, wurde sie gemobbt.
„In meiner Schule wird geschossen, das war 2002 ein Satz, der keinen Sinn ergab oder zumindest keine unmittelbare Assoziation hervorrief. In einer Schule schießt man doch nicht, vielleicht in den Staaten, aber doch nicht in Europa und schon gar nicht in Erfurt.“
Natürlich wollte ich den neuen Roman von Kaleb Erdmann lesen, der sich mehr als 20 Jahre später wieder den Ereignissen von Erfurt nähert.
Er tut das auf sehr innovative und unerwartete Weise. Erdmann selbst hatte als elfjähriger Schüler am Gutenberg Gymnasium den Amoklauf miterlebt und wurde in der Zeit danach in einer Ausweichschule unterrichtet. Sein Protagonist hat viel Ähnlichkeit mit Erdmann selbst und erzählt aus der Ich-Perspektive. Dennoch ist der Roman klar fiktiv, wenn auch vermutlich mit vielen autofiktionalen Elementen.
Die Ausweichschule – mein Tipp für die Longlist 2025
Es ist gerade dieses Spiel mit den verschiedenen Metaebenen, das den Roman für mich so spannend und faszinierend macht.
„Der Zweck dieses doppelten Bodens scheint es zu sein, den eigenen Voyeurismus und dadurch auch den des Lesers im Zaum zu halten, die eigene vulgäre Lust an dieser grässlichen Geschichte zu sanktionieren, eine Wand der Reflexion zwischen Romand und sich selbst einzuziehen.“
Erdmann verzichtet auf eine detaillierte Nacherzählung der Tat oder auf Spekulationen zu den Motiven des Täters. Und doch lässt er die Frage nach dessen Schuld immer wieder einfließen und zeigt die verschiedenen Sichtweisen auf dessen Verantwortung für die Tat.
„Die Komplexität erlischt, sie wird erstickt von der simplen Brutalität der einundsiebzig Schüsse. Steinhäuser tritt vor das eigentliche Thema des Textes – die Opfer und Hinterbliebenen.“
Auch die Verarbeitung eines solchen Traumas und die Erinnerungskultur nach einer solchen Tat ist ein großes Thema in Erdmanns sehr persönlich wirkendem Roman. In seinem Erzähler wirken Verdrängungsmechanismen und der Wunsch nach Erklärungen gleichermaßen.
„Heißt eine Sache zu bearbeiten, sich von ihr zu befreien?,“
„Aber bedeutet es nicht im Gegenteil auch, etwas am Leben zu halten, zu konservieren? Irgendwas in die Richtung?“
Mir gefällt das Vorgehen Erdmanns sehr gut und ich bewundere seine kunstfertige Romankonstruktion, die nur wie auf den ersten Blick spontan und im Moment geschrieben wirkt, aber natürlich auf den zweiten Blick sofort die gedankliche Reflektion dahinter erahnen lässt. Auch die kulterellen Referenzen wie beispielsweise die Verweise auf die Literatur von Ines Geipel und Emmanuel Carrère gefallen mir sehr gut.
Ich bin wirklich sehr beeindruckt von Erdmanns zweitem Roman. Jetzt habe große Lust auf Erdmanns Debütroman aus dem letzten Jahr, der mir zuvor in der Kurzbeschreibung zu zeitgeistig und jung geklungen hatte.
Vielen lieben Dank an park X ullstein für das sehr gewünscht Rezensionsexemplar. Danke und viel Erfolg an Kaleb Erdmann für seinen Roman.
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