Es gibt gleich mehrere Gründe, warum ich diesen Roman „Das fünfte Kind“ der britischen Schriftstellerin unbedingt lesen wollte. Zum einen habe ich (soweit ich mich erinnere) noch gar keinen Roman der 2013 verstorbenen und mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichneten Autorin gelesen.
Und zum anderen spricht mich genau dieser Titel natürlich aus privaten Gründen ganz persönlich an. Wenn Elternschaft und Familie als Thema in der Literatur aufgegriffen werden, was in den Romanen, die mich ansprechen sehr häufig der Fall ist, handelt es sich meist um traditionelle Kleinfamilien mit selten mehr als einem oder zwei Kindern. Die Großfamilie und ihre ganz speziellen Herausforderungen an ihre Mitglieder werden viel seltener so spezifisch bearbeitet.
In dem bereits 1988 erschienen Roman „Das fünfte Kind“ wissen Harriet und David bereits vor der Hochzeit, dass sie eine große Familie gründen wollen. Um nicht zu sagen eine sehr große Familie in einem sehr großen Haus.
Damit stellt sich das von Lessing als bieder und aus damaliger Sicht spießig beschriebene Paar komplet gegen den Zeitgeist. Die Geschichte spielt in den 70ern im Londoner Umfeld und die Pille hat die typische Familiengröße reduziert und ermöglicht, ja postuliert förmlich die sexuelle Freiheit für alle Geschlechter.
Aber Harriet und David sind verliebt und sich ihrer Sache sicher. Und ihr Plan scheint aufzugehen. Gleich nach der Hochzeit wird Harriet schwanger, was die junge Familie in finanzielle Bedrängnis bringt, aber Davids reicher Vater hilft gerne.
Nach dem ersten Kind folgen in sehr schneller Taktung weitere, und das große Haus wird ein beliebter und heimeliger Treffpunkt für Verwandte und Freund:innen.
„Sie buken Brot, bis das ganze Haus danach roch. Das war das Glück, auf die alte Art.“
Lessing beschreibt hier einen Lebensstil, den ich heute auch wieder vermehrt als Sehnsuchtsort wahrnehme, auf Instagram repräsentiert durch unter dem Stichwort „Cottage Core“.
Das Cottage Core der 70er
Es läuft also für alles nach Plan, Harriet und David könnten glücklicher nicht sein, das Paar wird im Freundeskreis beneidet.
Dann wird Harriet schwanger mit ihrem fünften Kind…
…und diesmal ist alles anders. Schon die Schwangerschaft ist eine einzige Tortur. Der ungewöhnlich starke Fötus martert die mittlerweile ausgelaugte Mutter mit seinen Tritten. Harriets Mutter ist über die erneute Schwangerschaft ihrer Tochter wenig erfreut, da ein großer Teil des Haushaltes und der Kinderbetreuung auf ihren Schultern lastet. Finanziell wird es eng und David arbeitet so viel wie nie zuvor. Das Paar entfremdet sich.
Als der kleine Ben schließlich geboren wird, zeigt sich schnell, dass der Traum von der glücklichen Großfamilie ausgeträumt ist, denn Ben ist…anders.
Lessing lässt die Frage nach dem Grund von Bens Andersartigkeit nicht wirklich offen, wie es vielleicht in einem zeitgenössischen Roman heute gelöst wäre. Beispielsweise in Lionel Shrivers Roman „Wir müssen über Kevin reden“ ist nicht klar, ob die Ablehnung der Mutter Kevins Grausamkeit erst verursacht hat, oder ob Kevin einfach böse geboren wurde. Bei Lessing hingegen lese ich da sehr viel weniger Ambivalenz heraus. Dabei ist Ben nicht böse im soziopathischen Sinn, sondern er wird vielmehr als andersartige Kreatur nicht menschlichen Ursprungs beschrieben.
Wer oder was ist Ben?
In der Figur von Ben erkenne ich natürlich einen Stellvertreter für alle, die möglicherweise nicht das Kind sind, das sich die Eltern – bewusst oder unbewusst – gewünscht haben. Ben steht für den Kontrollverlust und der Nicht-Planbarkeit der mit dem Elternwerden einhergehen. Bens Wildheit und Fremdartigkeit passen nicht mit den Strukturen einer kleinbürgerlichen Gesellschaft zusammen und so ist es auch für Harriet unmöglich ihn entsprechend zu erziehen.
Lessing zerstört die Davids und Harriets Illusion, sie wären anders als andere Paare und Eltern. Am Ende ist ihre Familie genauso wenig ein Ort der Idylle wie bei allen anderen.
Anders als erhofft fand ich in „Das fünfte Kind“ gar nicht so viel Analyse und Beschreibungen des Lebens in einer Großfamilie. Dennoch hat mich dieser Roman komplett gefesselt und in seinen Bann gezogen.
Das lag genauso an der Geschichte selbst, wie auch an der zeitlichen Distanz, mit der ich sie fast 40 Jahre nach ihrem Erscheinen lese. Lessings Schreibstil ist zeitlos verzaubernd und spannend, allerdings wären einige Darstellungen heute vermutlich nicht mehr in dieser Art vorstellbar.
Ich fand „Das fünfte Kind“ gesellschaftskritisch, sehr spannend und irgendwie auch ziemlich creepy.
Ich kann mir gut vorstellen, noch weitere Romane von Doris Lessing zu lesen. Kennst du die Autorin und hast Lesetipps?
Vielen lieben Dank an den Wagenbach Verlag für das gewünschte Rezensionsexemplar!
Aus dem Englischen von Eva Schönfeld

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