Auf diesen Roman und diesen Beitrag freue mich schon länger! Ich stelle euch heute die Fortsetzung, besser gesagt den zweiten Teil, des mehrbändig angelegten Romanprojekts „Über die Berechnung des Rauminhalts II“ von Solvej Balle vor.
Auch in Teil II hängt die Erzählerin Tara, deren Aufzeichnungen wir lesen, immer noch in der Zeitschleife des 18. Novembers fest. Sie erlebt im Gegensatz zu ihren Mitmenschen, die den 18. November immer zum ersten Mal erleben, immer wieder den gleichen Tag.
Die Versuche aus Band I die Mechanismen und die Wirkungsweisen dieser Zeitschleife zu verstehen oder gar zu durchbrechen hat Tara genauso hinter sich gelassen, wie ihr Zuhause und ihren Lebensgefährten Thomas.
Zu stark wurde das Gefühl der Distanz und der Fremdheit.
Und hier habe ich wieder genau wie bei Teil I diese starken persönlichen Assoziationen. Die Gefühle, die Tara zu Beginn des Romans beim Durchstreifen der Straßen beschreibt: “…fühle mich unwohl, überflüssig, ausgelaugt, verkehrt.”
Das Gefühl von Leere und aus der Zeit gefallen zu sein . Das eigene Ich beginnt sich aufzulösen…
Nach einer kurzen Rückkehr in ihr Elternhaus reist Tara durch Europa in dem Versuch sich ihre eigenen Jahreszeiten jenseits des 18. Novembers zu schaffen. Im ihrem gefühlten Winter nach Norden, im Frühjahr wieder nach Süden.
Können Jahreszeiten die Zeit strukturieren?
Tara erlebt die Jahreszeit nicht zeitlich sondern örtlich. Schafft sich ihre eigenen Jahresrythmus unterhalb des 18. Novembers. Kann das gelingen? Wird es ihr Halt geben?
Balle erschafft mit Tara eine Figur, die versucht, sich mit einer Situation abzufinden, die sie nicht ändern oder erklären kann. Mit Routinen und Abläufen, die sie gefangen halten. Ein Gefühl, dass ich und bestimmt viele kennen. Und dabei die Erkenntnis:
„Ich habe alles, was ich brauche. Ich leide keinen Hunger. Ich kann kaufen, was ich will.[…] Ich habe keine Verluste erlitten, keine persönlichen Enttäuschungen, ich wurde nicht abgewiesen, nicht verlassen. Es ist nichts geschehen, das man fürchten kann. Nichts Fürchterliches.“
Ist das für ein Leben ausreichend?
Ich bin wieder fasziniert von Balles Fähigkeit, in wenigen und sachlichen Worten eine Tiefe in ihrem Roman zu erschaffen, der viel Raum für Interpretationen und Assoziation lässt. Literarisch auf hohem Niveau nutzt sie den Rahmen der Zeitschleife um existenzielle und philosophische Fragestellungen auszuloten, die uns alle betreffen. Ob es um das Thema der endlichen Ressourcen geht oder darum, was uns noch als Individuum ausmacht, wenn alle Rahmenbedingungen wegfallen. Die Möglichkeiten in Balles Romanen Parallelen zu mir selbst oder zu unserer Welt zu finden sind so zahlreich wie reizvoll.
Stilistisch kann mich Balle mit ihrer nüchternen Berichterzählung fesseln. Die überraschenden Tempi Wechsel sorgen für Abwechslung. Für mich gibt es allerdings bei „Über die Berechnung des Rauminhalts II“ einen kleinen Abfall im Spannungsbogen. Zwar gibt Balle ihrer Erzählung im letzten Drittel nochmal eine komplett neue Richtung, an die fesselnde Spannung von Teil I kann das leider nicht ganz anknüpfen.
Spannung der anderen Art
Und im allerletzten Absatz sorgt der überraschende, fulminante Cliffhanger dafür, dass ich eigentlich sofort mit Teil III weiterlesen will!
Es bleibt geheimnisvoll und spannend und ich möchte gerne wissen, in welche Richtungen mich Balle noch mitnehmen wird!
„Ich finde nicht die Erklärungen, nach denen ich suche. Ich finde neue Fragen und neue Antworten.“
Und wieder gilt mein großer Dank Matthes und Seitz Berlin für die analoge Zurverfügungstellung dieses transzendenten Leseerlebnisses!
Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle
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