Übung in Gehorsam von Sarah Bernstein

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Übung in gehorsam Sarah Bernstein Rezension

Für mich war dieser sehr allegorische Roman eine große intellektuelle Herausforderung, der ich mich aber gerne aussetzt habe. „Übung in Gehorsam“ war für mich die Art von großer, klassischer Literatur, die beim Lesen Interpretationen und Assoziationen provoziert und auch benötigt.

Der Roman ist durchgängig aus der Ich-Perspektive in Form eines Berichts erzählt. Die Erzählerin ist eine alleinstehende, erwachsene Frau, die zu ihrem Bruder zieht, um ihn zu unterstützen, nachdem er von seiner eigenen Frau verlassen wurde. 

Die Erzählerin versorgt ihm den Haushalt und kümmert sich um seine Bedürfnisse, während sie Remote weiter für eine Anwaltskanzlei als Schreibkraft arbeitet.

Bernsteins erzählendes Ich ist gekennzeichnet durch absolute Passivität und dem Fehlen eigener Wünsche. 

Die Abwesenheit jeder eigenen Präsenz geht soweit, dass selbst die Sensoren von Schiebetüren sie nicht erfassen. Sie muss warten bis sie mit jemand anderen hindurch huschen kann.

„Sobald ich auf andere Menschen traf, jene, die stets eher die Oberhand gewinnen wollten, offenbarte sich mein Wille zur Ohnmacht, und ich neigte dazu, ehrerbietig zu sein, im Grunde sanftmütig, und den sprichwörtlichen Diener zu machen, bis mir der Rücken brach.“

Immer wieder beschreibt Bernstein die devote Haltung der Ich-Erzählerin, ihren Wunsch, völlig in den Bedürfnissen von anderen aufzugehen. Das Ich beschreibt, wie sie von Kindesalter an von der Gesellschaft und von ihrer Familie zu dieser Haltung geformt wurde. Ich lese hier die Beschreibung, wie die Erzählerin zu der perfekten Frau geformt wurde, die das Ideal unserer binären Geschlechterrollen vorgibt: ohne eigene Bedürfnisse, bescheiden, unsichtbar, dienstbar, fleißig, still, schwach und unterlegen.

Ausgrenzung und Vorurteile

Die Erzählerin schreibt von ihrem Wunsch und ihren Anstrengungen, diese Anforderungen zu erfüllen.

Und noch weitere Anstrengungen beherrschen den Alltag der Erzählerin. Um ihren Bruder zu unterstützen ist sie in eine andere Stadt, in ein fremdes Land gezogen, dessen Sprache sie nicht spricht.

Die „Städter“ lehnen sie trotz ihrer Anstrengungen zu Integration ab und grenzen sie aus.

„All diese Anstrengungen, stellte ich tieftraurig fest, waren vergeblich und wohl von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Sie hatten mich nicht eingebürgert; ich blieb außen vor, was ich, wie ich inzwischen begreife, zwangsläufig immer bleiben werde.“

Es finden sich viele Anspielungen darauf, dass das erzählende Ich als jüdisch gelesen werden kann und der Roman sowohl als Blick auf die Vergangenheit als auch Beitrag zum Leben mit jüdischer Identität in der Jetzt-Zeit diskutiert werden kann.

„So vieles ereignete sich auf einer zeitlichen und räumlichen Skala, die länger war als ein Leben, weitläufiger als ein Land, unermesslicher als die Exilgeschichte eines einzelnen Volkes.“

Bernsteins rätselhafter und düster-morbider Roman bietet unglaublich viele Ansaztstellen für eigene Gedanken und Interpretationen, doch ein immer wiederkehrendes Thema, das in der Person der Erzählerin liegt, ist die Frage nach Schuld und Verantwortung, Kontrolle und Macht. Denn auch wenn es so scheint, als wäre Bernsteins Ich ein ausgebeutetes Opfer, so bieten sich gerade am Ende auch komplexere Lesarten an.

Wieviel Macht hat ein Opfer?

„Die eigene Passivität, die eigene Mitschuld, die Grenzen waren nur scheinbar klar gezogen.

Denn wie auf dem Klappentext steht: „Auch durch Unterwerfung kann Macht und Kontrolle erlangt werden.“

Wir alle auf dieser ruinierten Erde bewiesen unseren lokalen Schwerkräften gegenüber perfekten Gehorsam, indem wir tagtäglich den Weg des geringsten Widerstands wählten, was zwar vollkommen und nachvollziehbar menschlich, zugleich aber auch das barbarischste, widerwärtigste Vorgehen war. Also, gut zuhören jetzt. Ich bin nicht unbescholten.

Ich habe meinen Teil dazu beigetragen.“

Die „Übung in Gehorsam“ ruft bei mir viele konzentrierte Gedanken hervor und auch jetzt arbeitet dieser zum Schluss hin immer abstrakter und surreal werdende Text noch in mir. Ich mag es sehr, mich tiefgründigeren und, ja, für mich auch anstrengenderen Romanen zu beschäftigen und meine Transferfähigkeit zu schulen. Allerdings weiß ich, dass mein nächster Roman dann wider eine leichtgängigere Lektüre sein wird.

Ich kann dir diesen Roman sehr empfehlen, wenn du bereit für eine kleines literarische  Herausforderung bist, die dich auf Pfade jenseits der Autobahnen des Easy-Readings führt!

  • Übung in gehorsam Sarah Bernstein Klappentext
  • Sarah Bernstein

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