VOR DER NACHT von Salih Jamal

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Vor der Nacht Salih Jamal

Dass Salih Jamal einen bodenlosen Abgrund aufreißen kann, weiß ich seit der Lektüre seines Romans “Blinder Spiegel”. Auch in “Vor der Nacht” ist der Fall tief, aber er geht diesmal wenigstens nicht ins bodenlose Nichts. Es ist die Liebe, die uns auffangen kann.

“Alles, einfach alles dreht sich um Liebe. Nie ist sie abwesend. Nie. Nie. Nie. Sie ist immer da. Sogar wenn sie nicht da ist.”

In einem Kinderheim in einem Wald direkt neben der Autobahn treffen sechs verlorene Kinder aufeinander und werden Freunde. Der Ich-Erzähler Jonas, später Jimmy genannt, Pappel, Frei, Lilly und die Geschwister Sinan und Beria. Alle bringt eine schwierige, wenn nicht gar traumatische Vergangenheit ins Heim und die Freund*innen geben sich mit kleinen Ritualen Geborgenheit und Halt. 

Schwere Vergangenheit

Die Gruppe wird älter und irgendwann sind Sinan und Frei einfach verschwunden. Es dauert nicht lange und auch der Rest der Gruppe zerbricht, wird zerstreut und verliert sich aus den Augen.

Jimmy, der Erzähler wird erwachsen und zieht mit seinem Freund Pappel in eine kleine Wohnung. Der Mangel an Liebe hat schwere Spuren in ihren Seelen hinterlassen und ihre eigene Fähigkeit zu lieben und einem anderen Menschen völlig zu vertrauen schwer beschädigt. Jimmy fühlt sich teilweise leer und dissoziiert .

“Manchmal schien es mir, als würde ich aus dem Leben verschwinden. Innen ständig außer Reichweite.”

Um zu heilen und wieder ganz zu werden ist er auf der Suche nach seinen alten Freund*innen. 

Irgendwann trifft er zufällig auf Lilly und muss das komplette Ausmaß ihrer seelischen Zerstörung erkennen. In ihrer Geschichte finden sich Parallelen zu “Der blinde Spiegel”

Von derart selbstzerstörerischen Menschen wie Lilly zu lesen ist für mich als lebensbejahender und größtenteils stabiler Mensch bisweilen eine Qual und gleichzeitig auch morbide faszinierend. 

Auch in “Vor der Nacht” stößt mich die Dunkelheit in Jamal’s Roman wieder genauso ab, wie sie mich anzieht und nicht alle Figuren werden ihren Abgründen entkommen können.

Und wie schon in “Blinder Spiegel” finde ich das skizzierte Frauen- und Menschenbild teilweise verstörend, aber in “Vor der Nacht” bilden die helleren Charaktere des Erzählers Jimmy und von Beria und Mia ein gutes Gegenwicht zu den zerstörten, dunklen Seelen der anderen.

Bei Jamal geht es um existenzielle und philosophische Fragen des Menschseins, es geht um die zerstörerische und heilende Kraft der Liebe, um Vergebung und Schuld und letztendlich darum, ob wir den Wolf in uns besiegen können. 

Einzigartiger Schreibstil

Den Schreibstil des Schriftstellers finde ich besonders und einzigartig poetisch kraftvoll. Ich habe das Gefühl, Jamal bringt viel seiner eigenen Gefühle und Erfahrungen mit in seine Arbeit ein. Das tun wahrscheinlich alle Schreibende auf gewisse Art, aber gerade bei Jamals Romanen habe ich den Eindruck einer gewissen Entblößung und sehr intimen Verletzlichkeit. Diese Direktheit macht auch „Vor der Nacht“ wieder so unglaublich intensiv.

Ob sich die Gruppe der Freund*innen jemals wieder vereint, lässt Jamal bis kurz vor Schluss offen und gerade auf den letzten Seiten steigert sich die Spannung noch derart, dass ich das Buch bis zur letzten Seite nicht mehr weglegen kann.

„Vor der Nacht“ ist sicher keine sommerleichte Lektüre, die den Mainstream bedient und die existenzielle Schwere und Bedeutsamkeit, die in Jamals Roman liegt, passt vielleicht nicht in jede Lese- und Lebenssituation.

Ich bin aber schon immer auch auf der Suche nach den intensiveren und extremeren Gefühlen und literarischen Leseerlebnissen. Und wenn du das auch bist, dann ist „Vor der Nacht“ definitiv eine Empfehlung für dich!

Danke an den Leykam Verlag und Agentur Wolkenlos für das Rezensionsexemplar mit dem wunderschön schimmernden Cover. Und danke lieber Salih Jamal für deinen Roman, ich habe mich sehr über das signierte Exemplar gefreut! Ich wünsche dir ganz viel Erfolg, Verkäufe und viele, viele begeisterte Leser*innen! 

  • vor der Nacht Salih Jamal Klappentext
  • Salih Jamal

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