In einer anderen Rezension zu einem Roman von Raphaela Edelbauer hatte ich die Österreicherin, die bereits mehrfach für den Deutschen Buchpreis nominiert war und den Österreichischen Buchpreis gewonnen hat, als „Literarisches Genie“ bezeichnet.
Dementsprechend gespannt war ich natürlich auf ihren neuen Roman.
Und dementsprechend war ich mental auf eine fordernde Lektüre eingestellt.
Denn die Romane von Edelbauer kann ich quasi nicht im herkömmlichen Sinn lesen und verstehen. Ich durchlebe sie in einem Rausch traumhafter Verwirrung und Desorientierung.
Auch bei „Die echtere Wirklichkeit“ habe ich wieder das Gefühl permanenter intellektueller Überforderung. Ihr neuer Roman ist hochgradig philosophisch, gesellschaftskritisch und stellt die aktuellen Fragen unserer Zeit.
Ihre Protagonistin heißt Byproxy oder bürgerlich Petra, und ist eine junge Frau, die im Rollstuhl sitzt. Natürlich wählt Edelbauer nicht irgendwelche Namen, sondern alles hat Bedeutung. Oder manchmal eben auch nicht.
Byproxy hat sich einer philosophischen Aktivismusgruppe angeschlossen, die aus dem Untergrund agiert und eine klare Agenda hat.
„Aletheia – das bedeutet auf Altgriechisch Wahrheit, es ist aber auch der Name einer mythologischen Person, der Göttin der Wirklichkeit, der Tochter des Zeus. Dieser Name ist Programm. Wir sind eine Gruppe, der der Verlust der Wahrheit in der Gesellschaft, der das Zeitalter der post-truth, wie man heute sagt, ein Dorn im Auge ist.“
Der Gegensatz von Wahrheit und Meinung, der in heute immer mehr verschwimmt, ist der zentrale Diskussionspunkt in Edelbauers Roman, und das philosophische und agitative Hauptanliegen von Aletheia.
Allerdings ist sich die Gruppe selbst nicht einig, ob sie ihre Ziele durch Kunstaktionen, Aktivismus oder Terrorismus erreichen will. Aufmerksamkeit oder Disruption?
Bis Byproxy zu der Gruppe stößt und sie auf die dilettantische Lächerlichkeit und Wirkungslosigkeit ihrer bisherigen Aktionen aufmerksam macht.
Die Figur Byproxy gefällt mir ausgesprochen gut. Edelbauer legt sie als Mensch mit Alexithymie an (sorry, aber wenn du Fremdwörter scheust, sind Edelbauers Romane nichts für dich).
„Man nennt einen Menschen, der wahlweise die Gefühlslagen, die in ihm herrschen, nicht benennen kann oder die Identifikation derselben durch eine allgemeine Dunkelheit verunmöglicht sieht, alexithym.“
Durch Byproxys dissoziatives Verhältnis zur sogenannten »normalen emotionalen Reaktion kommt Edelbauers trockener und zynischer Humor bestens zur Geltung.
Neben der politischen und gesellschaftlichen Ebene des Romans gibt es noch eine persönliche Ebene mit der Geschichte von Byproxy (und natürlich hängt alles mit allem zusammen).
In Rückblicken erzählt sie die bis in die Kindheit zurückreichende Beziehungsgeschichte zu Dorothee, die dann bei dem Autounfall, der der Grund für Byproxys Wirbelsäulenverletzung war, gestorben ist.
Diese Liebesgeschichte hat mir sehr gut gefallen und mir die mesmerisierenden Edelbauer-Vibes gegeben, die bei mir rund um den Aletheia-Erzählstrang nicht aufkommen wollten. Gerade die theoretischen Philosophierereien der Gruppe waren mir doch zu ausufernd und anstrengend.
„DAVE“ und „Das flüssige Land“ waren da in meiner Erinnerung tendenziell weniger langatmig, wenn auch gleichermaßen irritierend und realitätsauflösend.
Definitiv schreibt Edelbauer für eine intellektuell exklusive Leserschaft, ich möchte aber betonen, dass eine vollständige Durchdringung ihrer Texte gar nicht unbedingt notwendig ist und die Romane vielleicht auch gar nicht so konzeptioniert sind. Vielmehr gelingt es Edelbauer durch ihren einzigartigen Stil bei mir unbekannte Denkräume aufzustoßen und mich für einen Moment mental aufs nächste Level zu heben. Ich fühle mich dann kurz frei von Logik, chronologischen Abläufen und Realitäten. Ich fühle mich kurz schwerelos.
Vielen lieben Dank an den Klett-Cotta Verlag für das gewünschte Rezensionsexemplar. Danke und viel Erfolg an Raphaela Edelbauer für ihren neuen Roman!
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