Eine Mutter verlässt ihr Kind.
Welche Mutter verlässt ihr Kind? Viel Verurteilung und Unverständnis liegen schon in dieser kurzen Frage.
Maren Wurster nähert sich in ihrem 2022 erschienen Roman „Eine beiläufige Entscheidung“ einer Frau kurz nach dem Moment an, in dem sie ihren kleinen Sohn verlassen hat. Eine beiläufige Entscheidung? Sicher nicht, aber vielleicht die Konsequenz einer anderen beiläufigen Entscheidung.
Für Lena, die eine Hauptfigur in Wursters Roman, passt ein Kind eigentlich gerade nicht zum Lifestyle, der aus beruflichem Erfolg, Reisen, Party und einer auf hedonistischen Genuß ausgelegten Beziehung zu ihrem Freund Robert besteht. Trotzdem beschließt sie, eine Schwangerschaft nicht mehr aktiv zu verhindern, genauso wenig wie ihr Freund. Und tatsächlich wird Lena bald schwanger und ihr Leben beginnt sich zu verändern.
“Von da an fühlte sie mehr und mehr, dass sie nicht mehr mitziehen konnte.”
Mit der Geburt ihres Sohnes und in der Zeit danach, verwandelt sich Lenas Leben in ihren persönlichen Alptraum. Der Schlafentzug, die massive Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit und die permanente Verantwortung für das Baby bringen sie an ihre persönlichen Grenzen. Sie bekommt von ihrem Freund und ihrem Umfeld, das unverständlich reagiert, kaum konkrete und moralische Unterstützung. Schließlich war es ihre Entscheidung Mutter zu werden.
Die zwei Seiten einer Entscheidung
Wenn du den Roman umdrehst, und von der anderen Seite anfängst zu lesen, lernst du die andere Hauptfigur von Wurster, einen Jungen an der Schwelle zum Erwachsenwerden, kennen. Konrad, dessen Mutter Lena ihn bereits als Baby verlassen hat, ist bei einer Nanny und einem abwesenden Vater aufgewachsen. Der bezahlt für Konrad zwar eine treuere und noble Internatsausbildung, ist aber ansonsten für ihn emotional nicht verfügbar. Und obwohl seine Pflegemutter für Konrad alles getan hat, um für ihn eine Bezugsperson zu sein, leidet er stark unter dem Fehlen echter elterlicher Liebe. Konrad rebelliert gegen sein Umfeld. Seine Angst und seine Suche nach Zugehörigkeit sucht ein starkes künsterlisches Ventil.
Auch wenn der Roman nicht sehr umfangreich ist, gelingt es Wurster auf den wenigen Seiten zwei unglaublich starke Porträts zweier verlorener Menschen zu zeichnen. Ohne die Mutter Lena aus ihrer Verantwortung für ihre Entscheidung zu entlassen, zeigt sie für mich absolut nachvollziehbar, wie es zu dieser Entwicklung gekommen ist. Und wer den Preis dafür zahlen muss.
Naturgemäß hat mich Lenas Teil stärker abgeholt und berührt. Ich kenne die Irrationalität von Kinderwunsch und die Konsequenzen dieser Entscheidung gut und finde viele meiner Gefühle in Lenas Geschichte wieder, auch ohne dass es direkte Parallelen zwischen mir und ihr gibt.
Ich möchte besonders die besonders raffinierte Konstruktion des Romans hervorheben, die die zwei Seiten einer Entscheidung unterstreichen. Zwei durch Lenas Entscheidung getrennte Leben und Geschichten. Werden sie sich irgendwann in der Mitte treffen?
Vieles lässt Wurster offen und deutet gesellschaftliche Kritik an einem übersteigertem Mutterideal mit der Figur des genauso abwesenden Vaters nur an.
Sie überlässt es mir als Leser*in, mir ein Urteil zu fällen.
Oder eben auch nicht.
Für mich ein großartiger und literarisch sehr ansprechender Roman!
Erschienen 2022 bei Hanser Berlin.
Schreibe einen Kommentar