“Meine Mutter nimmt am Morgen Blutdrucktabletten gegen den Bluthochdruck, Magenschutztabletten gegen das Sodbrennen, Tabletten gegen die Fettleber und Wassertabletten wegen der Wassereinlagerungen in den Füßen und im Gewebe.”
Die Mutter des erzählenden Ichs in dem Roman „Familienkörper“ ist chronisch krank. Und nicht nur die Mutter. Auch die Großmutter und die beiden Schwestern haben immer wieder verschiedene Beschwerden, Krankheiten und Allergien.
Nur die Ich-Erzählerin wächst gesund auf. In „Familienkörper“ spürt die österreichische Autorin Michèle Yves Pauty der Geschichte einer Familie nach, deren Frauen in drei Generationen von Medical Gaslighting betroffen sind.
Immer wieder wird ihnen von Ärtzen nicht richtig zugehört, sei werden nicht ernstgenommen, ihre Symptome und Beschwerden werden auf psychosomatische Ursachen reduziert.
Teilweise mit fatalen gesundheitlichen und psychischen Auswirkungen.
Yves Pauty versucht Worte zu finden und zu verschriftlichen, welche Zusammenhänge zwischen Sexismus und Misogynie und dem Umgang mit Frauen in der Medizin bestehen und welchen konkreten Auswirkungen das in ihrem Leben haben kann.
Auch Herkunft, Klasse und Bildung sind Faktoren, die die Gesundheit von Frauen beeinflussen und wie sie sich im Gesundheitssystem positionieren können.
Dabei ist „Familienkörper“ kein Sachbuch sondern ein Roman, der stark autofiktional wirkt, aber gleichzeitig mit dieser Vorstellung bricht. Die Lebenswege von Großmutter, Mutter und Schwestern der Ich-Erzählerin sind gleichzeitig individuell und auch typisch für die Generation, der sie angehören.
„Ich schreibe die Verletzung aus unserem Familienkörper. Nehme den Schmerz und wandle ihn zu Wörtern, die außerhalb von uns stehen, die zu vielen werden.“
Schwierige Schwangerschaften und Geburten, Beckenbbodenprobleme, Autoimmunerkrankungen, Lebensmittelunverträglichkeiten, Endometriose, Essstörungen…
Die Liste könnte hier noch weiter fortgesetzt werden.
Nur ganz allmählich und viel zu spät und zu langsam erkennt die Medizin an, dass
Frauenkörper im Laufe ihres Lebens nicht nur besonderen gesundheitlichen Herausforderungen ausgesetzt sind, sondern dass sie auch andere Symptome als Männerköper auf die gleichen Krankheiten zeigen können.
Der Familienkörper – Pars pro toto?
Genauso wie in vielen anderen Bereichen gilt auch in der Medizin der Mann* als Standard und die Frau* als Abweichung.
Medical Gaslighting ist ein Thema, das mich (leider) seit Jahrzehnten begleitet, das mir sehr bewusst ist und das mich sehr aufregt. Und wie ich aus dem Austausch mit Freundinnen und lieben Bookies weiß, vielleicht auch dich.

“Wo sind die Tränen, der Schmerz, die Wut, die Enttäuschung, das Blut und die Worte dafür?”
– Michèle Yves Pauty, Familienkörper
Ich lese die Worte dafür in „Familienkörper“ und ich fühle mich ein bißchen getröstet, dass Yves Pauty es versucht und diese Worte gefunden hat.
Und gleichzeitig hat mich der Roman auch aufgeregt und traurig und wütend gemacht angesichts der Geschichten des „Familienkörpers“, die so auch in meiner Familie hätten passieren können, die so passiert sind und die so immer noch passieren.
Für mich war das ein sehr starker Roman, der es mir zwar anfangs mit seinen verschiedenen Erzählperspektiven und mit der nur grob chronologischen Erzählweise schwer gemacht hat, mich aber später umso stärker emotional abgeholt hat.
Keine Frage, falls du dich für das Thema interessierst, ist „Familienkörper“ eine große Empfehlung für dich.
Vielen lieben Dank an den österreichischen und unabhängigen Haymon Verlag für das wunderschöne Rezensionsexemplar. Danke und viel Erfolg an Michèle Yves Pauty für den Roman!
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