Von dem Roman „Freundschaft und Vergeltung“ habe ich so ziemlich genau das bekommen, was ich auf Grund der Beschreibung und des Klappentextes erwartet hatte. Das ist erstmal nichts Negatives, sondern kann grundsätzlich auch sehr entspannend sein.
Meine leichte Befürchtung der Berliner Autor könnte vielleicht das gewählte britisches Internatssetting nicht authentisch wiedergeben, haben sich nicht bewahrheitet. Zwar glänzt der Roman nicht gerade mit ortstypischen Lokalkolorit oder einem very british tone, wie bei beispielsweise Dorothy Sayers, Ruth Rendell oder andere von mir geschätzten klassische Autorinnen, aber er fällt zumindest nicht negativ auf.
Krausser, ein routinierter und renommierter Schriftsteller, erzählt aus der Ich-Perspektive seiner Hauptfigur Anthony Brewer in Form eines Berichts. Anthony ist ein Rechtsanwalt im Ruhestand und hat in den 60er Jahren das Knabeninternat Raven Hall besucht. In Rückblenden erzählt er aus der Zeit, als er als 17-jähriger das College besuchte. Natürlich gehörte er nicht wirklich zu den coolen Jungs und bewundert seinen beliebten Zimmergenossen Chris und ist, wie so viele andere, in die Femme Fatale der Schule, Miss Rodgers, verliebt. Es gelingt im die Freundschaft von Chris zu gewinnen.
Zwischen die Rückblicke setzt Krausser Auszüge aus Interviews, die Brewer in den 80er mit ehemaligen Lehrer*innen und Schüler*innen geführt hat, in dem Versuch, die Ereignisse der Jahre 1965 und 1966 zu rekonstruieren.
Er will dem mysteriösen Verschwinden von vier Menschen, darunter sein Freund Chris und Miss Rodgers, auf den Grund gehen. Leichen wurden allerdings nie gefunden.
Diese prägende Zeit verfolgen Brewer durch die Jahrzehnte und jetzt als Rentner mit viel Zeit will er seine Recherchen und Bemühungen noch einmal vertiefen…
„Ein meisterhaft komponierter Roman mit originellen Twists und nachbebender Spannung“ lese ich auf der Webseite des Verlages. Das mögen viele Leser*innen vielleicht ebenfalls so empfinden, denn daran, dass Krausser sein Handwerk versteht und als Schriftsteller über genügend Expertise verfügt, besteht kein Zweifel.
Erwartbarer Verlauf und Charaktere sorgen für Entschleunigung
Für mich war der „Freundschaft und Vergeltung“ allerdings nur lauwarme Unterhaltung, die für mich weit von echter Spannung und noch viel weiter von literarischem Tiefgang entfernt war.
Für meinen Geschmack bemüht Krausser zu viele Stereotype (die strenge, trinkende Schuldirektorin, das Mobbing-Opfer, der gutmütige Hausmeister) und seine Figuren sind mir zu wenig ausgebaut.
Lesetechnisch sorgen die verschiedenen Erzählformen aus Ich-Erzählungen, Verhörprotokollen, Interviews und Chatverläufen für gute Abwechslung, die „originellen Twists“ konnte ich in der Mehrzahl nicht herauslesen.
Im drittel Teil gewinnt die Figur des Anthony Brewers ein wenig an Profil, als er etwas verbittert und zynisch seine Ehe und die Vergangenheit rekapituliert, gerne hätte Krausser die unsympathische und besessene Art seines Erzählers und die ambivalente Natur dessen Freundschaft zu Chris noch etwas vertiefen können. Gar nicht funktioniert hat für mich die Figur Imogen, die Krausser als schrullige, frivole aber liebenswerte alte Dame anlegt und Brewer als Art Ermittlungsgehilfin zur Seite stellt. Sie soll wohl mutmaßlich als eine Art Comic Relief dienen, ist aber eigentlich überflüssig und verärgert mich als feministische Leserin.
Dazu kommen noch einige zu praktische Zufälle und eine (nicht überraschende) Holter-die-Polter Auflösung plus merkwürdig wohlfeilem Ausklang.
Gerade angesichts der wirklich großartigen (amerikanischen) Campus Romane der letzten Zeit kann ich mich nicht wirklich zu einer Empfehlung für dich durchringen.
Aber wie gesagt, Helmut Krausser ist ein renommierter und erfolgreicher Buchautor, dessen Romane regelmäßig im professionellen Feuilleton der bekannten Zeitungen besprochen werden und einige bereits verfilmt wurden. Von daher wird auch „Freundschaft und Vergeltung“ sicher seine Leserschaft finden.
Vielen lieben Dank an den Berlin Verlag (Piper) für das schöne Rezensionsexemplar und alles Gute an Helmut Krausser für den Roman und den bevorstehenden 60. Geburtstag am 11. Juli!
Schreibe einen Kommentar