Jan Kuhlbrodt ist seit vielen Jahren selbstständiger Schriftsteller und hat in verschiedenen Medien und Verlagen lyrische, belletristische und essayistische Arbeiten veröffentlicht.
Mit „Krüppelpassion“ legt er ein autobiografisches Werk vor, das dem seine MS (Multiple Sklerose) Erkrankung thematisiert. Er selbst nennt sein Buch im Pressetext eine „Chronik eines sich ankündigenden Todes“.
Doch Kuhlbrodts Buch liest sich nicht chronologisch, auch wenn die Richtung bereits im Vorfeld festgelegt scheint und es keiner Spoiler bedarf. Vielmehr nimmt mich Kuhlbrodt mit in seine innere Gefühlswelt, die sehr von Gedanken über seine Vergangenheit geprägt ist. Interessant, aber nicht zwangsläufig aussagekräftig, finde ich, welche Lebensabschnitte in den Vordergrund drängen und welche nur sehr kurz erwähnt werden.
Für den Autor ist im Angesicht seiner (oder besser: der) Krankheit und des Todes die Vergangenheit manchmal kaum mehr begreifbar, und wird dennoch immer mehr präsent im Jetzt, denn die Zukunft fehlt.
Es gibt kein Vorrausschauen mehr, nur der Blick zurück. Ein Leben im Jetzt.
Carpe Diem!
Kuhlbrodts ehrliches Schreiben thematisiert nicht nur die sich aufdrägenden philosophischen Fragen sondern auch die ganz pragmatischen, irdischen Begleiterscheinungen und Einschränkungen durch seine fortschreitende Behinderung. Fehlende Barrierefreiheit und der exkludierende Umgang unserer Gesellschaft und seines näheren Umfelds mit Menschen jenseits des körperlichen und geistigen Normbereichs macht er sichtbar und kritisiert sie.
Unsere Leistungsgesellschaft hat das Verdrängen von Gebrechlichkeit und Tod perfektioniert.
Ich finde in „Krüppelpassion“ aber auch sehr humorvolle Episoden. Das Buch ist voller Galgenhumor.
Ich wäre gerne dabei, wenn Jan Kuhlbrodt auf seinem selbstkonstruierten Hoverboardrollstuhl durch das Fenster des Literaturinstituts einfliegt, untermalt von Wagners Walkürenritt.
Kuhlbrodt offenbart sich in seinem Text mit einer großen Verletzlichkeit, Wut und Hilflosigkeit. Dem entgegen stehen sein Humor, sein Pragmatismus und sein Mut, sich dem Ende zu stellen. Seine Offenheit und Menschlichkeit haben mich sehr bewegt und berührt!
Jan Kuhlbrodt wurde für „Krüppelpassion“ mit dem Alfred-Döblin-Preis 2023 ausgezeichnet.
Das Buch erschien beim Gans Verlag, einem jungen Berliner Indie-Verlag, der neben Gegenwartsliteratur – außerhalb des Mainstreams – die Wiederentdeckung historischer Kinder- und Jugendbücher von jüdisch-deutschsprachigen Autorinnen und Autoren als Schwerpunkt hat.
Vielen Dank für das Rezensionsexemplar! Auch an das Büro für Text und Literatur von Birgit Böllinger.
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