🔸Das wird wieder eine komplexere Rezension für mich. Ich habe „Lieblingstochter“ von Sarah Jollien-Fardel sehr gern gelesen. Er ist nicht glatt, sondern teilweise sperrig, was mir gefiel aber auch herausforderte.
Davon später mehr, ich werde wie immer mein Bestes geben um euch meinen Leseeindruck zu vermitteln. Vielleicht bekommt ihr Lust, euch euer eigenes Bild zu machen.
🔸Die Handlung von Jollien-Fardels Roman beginnt in einem sehr kleinen, abgelegenen Bergdorf in der Schweiz. Dort bleibt man unter sich und das Bewahren des sozialen Friedens erfordert ein gewisses Wegschauen bei familiärer Gewalt. Nein, diesen Begriff möchte ich nicht so stehen lassen. Ich möchte es benennen: der Vater schlägt und vergewaltigt die Mutter, er misshandelt und traumatisierte seine Kinder, er ist ein Tyrann.
Eines dieser Kinder ist Jeanne, die Ich-Erzählerin des Romans, die unter diesen katastrophalen Umständen erwachsen wird. Eine hart erkämpfte schulische Ausbildung erlaubt ihr später die Flucht aus der Enge ihres Heimatdorfes und vor ihrem Vater.
Doch kann sie wirklich entkommen?
🔸Jollien-Fardel geht dieser Frage sehr differenziert nach, das sind für mich die stärksten Passagen des Romans. Jeanne wird von ihren inneren Dämonen gequält. Ihr Selbsthass wächst, als sie realisiert, wie sehr ihr Vater sie geprägt hat und die Gewalt auch ein Teil von ihr selbst geworden ist. („𝘐𝘤𝘩 𝘷𝘦𝘳𝘬ö𝘳𝘱𝘦𝘳𝘦 𝘥𝘪𝘦 𝘢𝘣𝘴𝘤𝘩𝘦𝘶𝘭𝘪𝘤𝘩𝘦 𝘉𝘦𝘴𝘵𝘪𝘢𝘭𝘪𝘵ä𝘵 𝘮𝘦𝘪𝘯𝘦𝘴 𝘝𝘢𝘵𝘦𝘳𝘴“).
Sie kann ihre Mutter nicht verstehen oder verzeihen, sich und ihre Töchter einem solchen Leben ausgesetzt zu haben.
Es schmerzt sehr, dass noch die kleinste schöne Kindheitserinnerung vergiftet ist von der Vergangenheit und es immer bleiben wird.
🔸Ihre Herkunft beeinflussen die Wahrnehmung der sexuellen Orientierung der Ich-Erzählerin. Als Antithese zu ihrem Vater und allen Männlichen fühlt sie sich stark zu Frauen hingezogen und geht Beziehungen mit ihnen ein. Erst mit einigem Abstand kann sie ihre Bisexualität an- und erkennen. So würde ich es nach einigem Nachdenken vorsichtig formulieren. Ich denke nicht, dass Jollien-Fardel andeuten möchte, dass Jeanne wegen ihres gewalttätigen Vaters lesbisch geworden ist. Ein kleines Unbehagen möchte ich an dieser Stelle aber nicht unter den Tisch kehren.
🔸Ich fand, insgesamt ein starkes Debüt von Sarah Jollien-Fardel, eine in der Realität verankerte Hommage an das Wallis und den Genfersee, wie sie selbst in einem Interview erwähnt, und ein Tribut an alle, die immer wieder von ihren Leiden und ihrer Vergangenheit eingeholt werden.
Vielen lieben Dank an Aufbau Verlage und @netgalleyde für das digitale Leseexemplar!
Ins Deutsche übertragen von Theresa Benkert
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