„Zwei Paare und fünf Kinder in einem alten Haus mitten im kanadischen Wald…“
Der Klappentext des Romans hat mich spontan angesprochen, natürlich wegen der Kinder, dem Lockdown und dem Landidyll.
Beim Lesen habe ich allerdings sehr schnell gemerkt, dass das Leben der Erzählerin mit meinen eigenen Erfahrungen während des Lockdowns recht wenig zu hat. Während mir die Aufteilung zwischen Erwerbsarbeit, dem Wegfall jeglicher externer Kinderbetreuung, der geforderten Beschulung der Kinder und die Einschränkungen des Alltags alles abverlangt hat und für Muße oder Naturbetrachtungen jeglicher Art keinerlei Raum oder Kapazität mehr frei war, offenbart sich der Lockdown für die Erzählerin als unerwartete Möglichkeit der Selbstfindung.
Anaïs zieht sich mit ihrer Familie in ein altes blaues Haus mitten im kanadischen Wald zurück und verbindet sich auf poetische Art mit der sie umgebende
Natur und der Geschichte und den Menschen des Ortes.
Bevor ich mich auf den Text einlassen konnte, musste ich mich erst frei machen von meinen profaneren Gedanken. Erwerbsarbeit, die Finanzierung und Organisationen des Alltags, Kinderstreitereien und andere Trivialitäten finden in dem Text von Barbeau-Lavalette wenig bis gar nicht statt.
Stattdessen reduziert sie ihren Text auf das für sie Wesentliche, auf ihre Assoziationen und Gefühle. Der Roman fließt und mäandert in loser Abfolge durch einzelne Erzählungen von Eltern, Verwandte und Bekannte.
Abstrakt versus Konkret?
Verbunden werden die Erlebnisse und die Gedanken in der Abgeschiedenheit durch wunderbares und sinnliches Natur Writing.
Fast könnte ich manche Passagen mit den blumigen Beschreibungen des Landidylls als belanglos überlesen, aber dagegen hält Barbeau-Lavalette kleine und größere Irritationen. Grabsteine und Tropfen von Blut zwischen duftenden Veilchen.
Das ist ein starker Kontrast. Diese kleineren und größeren Schrecklichkeiten zeigen die dunklen Seiten der Natur und des Landlebens und bewahren vor zu viel Gefälligkeit.
Ich kann die wunderbare Sprache und die kraftvolle Essenz des Romans beim Lesen genießen, fühle mich aber nicht in wirklich in meinem natürlichen Habitat.
Ich würde „Sie und der Wald“ als sprachlich wunderbaren Roman einordnen, der Leser*innen, die nicht immer die ganz große Krise und die unhinged sensation brauchen, auf alle Fälle bereichern kann.
„Sie und der Wald“ ist eine der ersten Veröffentlichungen aus neuen Reihe Diogenes Tapir, mit der laut dem Verleger Philipp Keel Bücher für „ein eigensinnigeres Leben, mit denen wir die Gegenwart durchstreifen und der Zukunft in die Augen schauen“ präsentiert werden sollen. Ich bin sehr gespannt!
Vielen Dank an den Diogenes Verlag für dieses besondere Rezensionsexemplar!
Aus dem Französischen von Anabelle Assaf
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