Ronya Othmann schreibt.
“Ich schreibe: Ich habe gesehen. Das Ich ist ein Zeuge. Es spricht, und doch hat es keine Sprache.”
Der 03. August 2014 markiert den Beginn des Völkermordes der Êzîden durch den IS. Er beginnt mit dem Überfall und der Auslöschung der nordirakischen Stadt Shingal. In den folgenden Jahren werden dort und in der gesamten Region êzîdische Männer und ältere Frauen ermordet, Dörfer, Städte und Tempel zerstört und jüngere Frauen und Mädchen vergewaltigt und in die Sklaverei verkauft.
Ganze Landstriche werden vom IS entvölkert und verwüstet. Hundert tausende Menschen werden vertrieben und leben zum Teil bis heute in Camps.
Noch immer werden Frauen und Männer vermisst, die entweder tot sind oder als Sklaven leben.
Das ist die maximal vereinfachte und verkürzte Beschreibung einer langen historischen Entwicklung, die in dem 2014 gestarteten Genozid an den Êzîden kumuliert, aber nicht seinen Endpunkt findet.
Für ihren Roman „Vierundsiebzig“ reist Ronya Othmann, gemeinsam mit ihrem kurdisch-êzîdischen Vater in die Region und versucht Worte zu finden. Sie will schreiben, Zeugnis ablegen, die Tatorte sehen, die Geschichten hören.
Verstehen, ob und wie ein gemeinsames Weiterleben möglich sein kann.
Ihre Reiseziel ist Shingal, aber das psychische und physische Vordringen zu diesem Epizentrum der Gewalt ist nicht leicht.
Die Region ist von Konflikten gezeichnet, Checkpoints und Milizen erschweren den Zugang in die Shingal Region. Die Menschen können und wollen aus Angst und auf Grund der Instablien Situation nur selten und nur notgedrungen in ihre zerstörten Dörfer zurückkehren.
Auch mit Worten ist ein Vordringen zum Kern des Hasses und der Zerstörung schwierig.
„Wie könnte ich ihre Stimme hier beschreiben, den Ton, in dem sie das sagt, der zwischen Wut und Entsetzen, wahrlich Entsetzen, schwankt.“
“Der Superlativ von Zerstörung, notiere ich. Aber damit lässt sich kein Krieg beschreiben.”
Komplexe politische und historische Hintergründe
Ich selbst begrüße diesen Roman von Othmann sehr, wünsche ich mir doch oft einen niedrigschwelligen und literarischen Zugang zu politischen Themen, die mir in Sachbüchern zu kompliziert und zu distanziert sind. Othmanns Buch eignet sich auch für Leser*innen, die noch wenig bis gar nichts über das Thema wussten. Es regte mich an, mich weiter mit der Geschichte und der Kultur der Êzîden zu beschäftigen , denn Othmanns Recherchen sind zwar weitreichend, aber nicht immer erschließen sich mir die Zusammenhänge ohne weitere Informationen.
Manche vielleicht zu detaillierte Schilderungen und zu ausschweifende historische Exkurse verdeutlichen, wie komplex und hochgradig belastet das Zusammenleben in der Region und zwischen den Religionen schon seit Jahrzehnten, wenn nicht schon seit Jahrhunderten ist.
“Ich denke, dass eine Geschichte immer aus zweierlei besteht: dem, was erzählt wird, und dem, was unerzählt bleibt. Die verborgenen und aufklaffenden Lücken, nicht unter dem Text, sondern darin. Der Text als verborgene und aufklaffende Lücke, denke ich.”
Ich denke an die Gesichten, die Othmann mir erzählt und ich denke auch an die Geschichten, die Othmann nicht in „Vierundsiebzig“ erzählt hat. An die vielen Menschen und das viele Leid, das nicht erwähnt wurde.
Nicht erwähnt werden konnte, weil es vielleicht wirklich keine Wort gibt, die es fassen können.
Vielen lieben Dank an den Rowohlt Verlag für das Rezensionsexemplar von „Vierundsiebzig“ und Danke und viel Erfolg an Ronya Othmann für ihre Arbeit, ihr Engagement und ihren Roman!
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