Dieser Roman „Wir drehen dem Meer unsere Rücken zu“ von Nancy Hünger hat mich komplett emotional geflasht. Ein riesengroßes überraschendes Highlight!
Damit hatte ich bei der etwas vage gehaltenen Kurzbeschreibung gar nicht gerechnet, sondern eigentlich mit einem etwas anstrengenden, anspruchsvollen Roman, den ich mir erst hätte erarbeiten müssen.
Aber „Wir drehen dem Meer unsere Rücken zu“ musste ich mir nicht erarbeiten. Ich konnte den Roman fühlen und ich musste ihn fiebrig in einem Zug durchlesen.
Nancy Hünger hat bereits viele Texte, Prosa und Lyrik veröffentlicht und dass die Schriftstellerin in der Lyrik zu Hause ist, merke ich auch in ihrem neuen Roman.
Ihr Text ist stark verdichtet, kommt manchmal mit wenigen Zeilen pro Seite aus und erzählt gleichzeitig so viel. So gut wie jede Zeile zitierbar.
Grob zusammengefasst erzählt der Roman die Geschichte eines Liebespaares von der ersten Verliebtheit bis zur langjährigen Beziehung. Jetzt steht das Paar am Abgrund und reist auf eine Insel im Meer, um die Beziehung zu retten.
“Wir sind seit Wochen auf der Insel. Wir kamen, umeinander wiederzufinden.”
Die Erzählerin erzählt aus weiblicher Perspektive. Der Roman greift unglaublich viele feministische Themen auf und beleuchtet deren Komplexität. Weibliche Scham, Rollenbilder, Essstörungen belasten die Erzählerin und beeinflussen gleichermaßen auch ihre Beziehungen.
Für mich hat der Roman auch deswegen gerade so gut gepasst, weil ich gerade davor „Mit Männern leben“ von Manon Garcia gelesen hatte und Hüngers Text eigentlich eine direkte Weiterschreibung der Frage ist: Wie können wir mit Männern leben? Wie können wir Männer lieben?
Mit Männern leben?
Ich muss sagen, dass mich dieses Fragen gerade privat auch sehr beschäftigen und belasten. Ich kann mich persönlich sehr mit Hüngers Text identifizieren. Er holt mich emotional gerade da ab, wo ich mich verletztlich und verwundbar fühle. In Garcia philosophischen Überlegungen fand ich keine richtige Antwort auf diese Fragen.
Hünger setzt gegen diese Fragen ein großes Trotzdem
“Es ist eine Liebesgeschichte, mit allem WENN UND ABER. Ich biete dem Mörtel der Sprache meine Stirn. Ich gehe das Risiko ein, denn Risiken sind kalkulierbar, Ungewissheiten nicht.”
Hünger findet perfekte und bewegende Worte gerade für eine Liebe, die bereits länger dauert und die sich vielleicht im freien Fall befindet, die sich abarbeitet an zu engen Geschlechterrollen, an internalisierter Misogynie und die schon eine Vergangenheit hinter sich hat.
“Nichts nutzt sich an dieser Liebe ab, nur ich. Ich habe diese ENTSCHEIDUNG getroffen, es ist meine Entscheidung, dass ich dich liebe und uns über die Gegenwart hinausdehne, so weit ich erzählen kann. Ich lasse uns nicht kollabieren, sage ja, ja, ja und wir beginnen von neuem.”
Für mich war „Wir drehen dem Meer unsere Rücken zu“ eine absolut zeitgemäße und aktuelle Lektüre, die mich auf allen Ebenen und in jeder Hinsicht komplett begeistert hat. Sie wird zu den absoluten Highlights in meinem Lesejahr gehören. Sozusagen ein emotionaler Volltreffer mitten ins Herz.
Ein dickes Dankeschön an Edition Azur und Voland Quist für das wunderbare Rezensionsexemplar. Danke und viel Erfolg an Nancy Hünger für ihren Roman!
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