Bei „Zerbrichmeinnicht“ bezaubert mich sofort die wunderschöne Covergestaltung des als „Intensive Autofiktion zwischen Bulgarien, Österreich und Deutschland“ angekündigten Romans. Bulgarien ist tatsächlich noch ein großer weißer Fleck auf meiner literarischen Landkarte.
Sibylle Reuter erzählt von der Kindheit und Jugend ihrer gleichnamigen Erzählerin in Bulgarien, aber vor allem auch von ihrer schwierigen Familiengeschichte und der Beziehung zu ihrer Mutter.
Die kleine Sibylle wird Ende der 70er als uneheliches und einziges Kind in Sofia, der Hauptstadt des kommunistischen Bulgariens, geboren. Ihren Vater, der in Berlin lebt, wird sie nur zweimal besuchen. Er gibt ihr nur seinen deutschen Nachnamen, aber keinen Unterhalt und nur selten Geschenke. Eine langjährige, schmerzende Leerstelle.
Ihre Mutter, selbst Tochter einer Österreicherin, öffnet ihr früh den Blick für die Missstände in ihrem Land und seine Begrenzungen. Als kleines Kind schickt sie Sibylle in einen Kindergarten der DDR-Botschaft. So wird in ihr früh die Sehnsucht nach einer anderen Heimat geweckt.
„Alles, was ich bisher in der DDR gesehen hatte, war moderner, schöner und besser als in Bulgarien.“
Auch Österreich, wo Verwandtschaft wohnt, und das Sibylle zum ersten Mal mit 13 Jahren besucht, wird zeitlebens ein großer Sehnsuchtsort für sie werden.
Wo bin ich zu Hause?
Die Suche nach einer Heimat, nach einem Zuhause und nach Zugehörigkeit zieht sich durch den ganzen Roman und das Leben der Erzählerin.
„Heimat bedeutet innere Sicherheit. Ich habe sie nie erfahren.“
Als Sibylle älter wird, wird die Beziehung zu ihrer Mutter zunehmend komplizierter und belasteter. Der starke Wunsch der Mutter nach einem besseren Leben für ihre Tochter ist mit Kontrolle und Leistungsdruck verbunden. Die junge Erzählerin droht daran zu zerbrechen.
„Mehr als die Ohrfeigen, die wieder an der Tagesordnung waren, taten mir Mutters Worte weh: dass ich des Lebens nicht würdig war. „Eine Schande bist du“, zischte sie mir immer wieder zu. „Ich schäme mich für dich! Eine Göre hab ich groß gezogen, die es zu nix bringt.“
Sibylle Reuters Debütroman ist nach eigenen Angaben ein literarisches Werk mit autofiktionalen Elementen. Ihr Erzählstil unterscheidet sich jedoch von anderen, bekannten autofiktionalen Erzähler*innen wie Daniela Dröscher, Alex Schulmann oder Edouard Louis. Reuter erzählt sehr anekdotisch, zeigt die Psychologie ihrer Figuren erst behutsam in den Kindheitsgeschichten und verdichtet erst mit zunehmenden Alter und Begreifen ihrer jungen Erzählerin. Das hat vielleicht nicht die temporeiche Prägnanz und Dramatik, die andere autofiktionale Romane zum Bestseller machen, kann aber mit authentischer Tiefe überzeugen.
Mich machten besonders die schmerzhaften Auseinandersetzungen zwischen Sibylle und ihrer Mutter sehr betroffen. Ebenso die Versuche der Erzählerin, sich aus der emotionalen und körperlichen Kontrolle zu lösen, um ein eigenes Gefühl von Selbstwert zu entwickeln.
„Dieses Gefühl, nicht wichig zu sein, nicht gewollt … ich kenne es.“
Ich bin mit „Zerbrichmeinnicht“ sehr gerne die Geschichte der Erzählerin eingetaucht und habe ihre Entwicklung verfolgt. Ich empfehle den Roman allen, die sich für eine autofiktionale Suche nach Liebe, Heimat und Zugehörigkeit interessieren.
Vielen lieben Dank an den Leykam Verlag und Agentur Wolkenlos für das Rezensionsexemplar mit dem wunderschönen Cover. Danke und viel Erfolg an Sibylle Reuter für ihren ersten Roman!
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