„Das Erwachen“, der bekannteste Roman der amerikanischen Schriftstellerin Kate Chopin erschien erstmals 1899 und ist nach einer späten Wiederentdeckung in den 1960er-Jahren heute einer der Romane, die in den USA am häufigsten im Englischunterricht gelesen und besprochen werden.
Im deutschsprachigen Raum sind die Autorin und der Roman eher weniger bekannt. Umso schöner, dass „Das Erwachen“ jetzt in einer „furiosen Neuübersetzung von Melanie Walz“ vorliegt, wie es auf dem Klappentext heißt.
Ich lese wirklich sehr selten einen Klassiker, aber ein Roman, der vom Streben einer Frau nach Unabhängigkeit und von emotionaler, sexueller und spiritueller Erweckung erzählt, weckt natürlich immer mein Interesse.
Chopins Protagonstin Edna ist eine junge verheiratete Frau mit zwei kleinen Kindern. Man ist reich und schön, und die Society entflieht im Sommer der Hitze der Südstaaten an die Küste für einen sehr ausgedehnten Badeurlaub.
Ednas Ehe ist nicht unglücklich, aber ihr Mann behandelt seine Frau oft unempathisch und rüde oder wie Barbara Kingsolver in ihrem Nachwort schreibt:
„Sie hat einen Ehemann, der lächelt und sie ignoriert oder sie unvermittelt für ihre imaginären Fehltritte niedermacht, manchmal auf grausame Weise. Frauen brauchen das, scheint er zu glauben.“
Und obwohl Edna romantisches Verliebtsein aus ihren Jugendjahren kennt, kommt sie gar nicht auf die Idee, von ihrer Vernunftehe und ihrem Leben mehr zu erwarten als einen fremdbestimmten und vorgegebenen, lauwarmen Ablauf bis zum Tod.
Eine Ahnung, dass das Leben und die Liebe vielleicht mehr bereit hält, bekommt sie, als sie während der Sommerfrische Robert Lebrun kennenlernt, einen attraktiven, jungen…Gesellschafter.
Die beiden verbringen viel Zeit miteinander und verlieben sich. Auch nach dem Sommeraufenthalt wirken diese Gefühle in Edna nach
„Sie hatte versucht, ihn zu vergessen, begriffen, wie sinnlos es war, sich zu erinnern. Aber der Gedanke an ihn war wie eine Besessenheit, die sie nicht losließ.“
Edna hinterfragt immer mehr ihre Ehe und hat immer weniger Lust, die ihr zugedachte Rolle in der Gesellschaft und in der Öffentlichkeit zu übernehmen.
“Das Erwachen“ – auch heute noch aktuell
Obwohl der weitere Verlauf von Ednas Geschichte und die Konsequenzen ihres Erwachens bei einem bekannten Klassiker jetzt vielleicht kein Geheimnis sind, möchte ich nicht weiter spoilern.
Den Roman zu lesen war für mich, wie so oft bei Klassikern, eine besondere, wenn auch vielleicht nicht ganz barrierefreie Erfahrung. Ich mag es besonders gerne, in eine ganz andere Zeit, Denk- und Schreibweise einzutauchen. Mich hat der krasse Gegensatz aus einer modernen, feministischen Emanzipationsgeschichte und dem Aussparen und Umschreiben gewisser Vorgänge, wie Schwangerschaft, Geburt und Sex überrascht, die heute gewiss keine schriftstellerischen Tabus mehr darstellen.
Aber auch, wie konsequent Chopin letztendlich „Das Erwachen“ zu Ende führt.
„es ist vielleicht besser, letzten Endes zu erwachen, selbst wenn man leiden muss, als sich sein Leben lang von Illusionen narren zu lassen.«“
Dass Chopins Roman auch heute (leider?) noch aktuell und zeitlos ist, zeigt die zeitgenössische Schriftstellerin Barbara Kingsolver in ihrem sehr bereichernden Nachwort. Dort überträgt sie Ednas Geschichte in die Moderne und kritisiert den mangelnden Veränderungswillen und langsamen Fortschritt bei der gesellschaftlichen Gleichstellung von Frauen.
Gerade bei Romanen, die weiter von meiner eigenen Zeit und meinem eigenen Erleben entfernt sind, freue ich mich immer sehr über ein einordnendes Nachwort und finde hier mit Kingsolvers Worten einen besonderen Glücksgriff.
Wenn du Lust auf einen amerikanischen Klassiker hast, der sich auf die weibliche Perspektive fokussiert, dann ist „Das Erwachen“ auf jeden Fall ein Buch für dich!
Vielen lieben Dank an den Dörlemann Verlag für das schöne Rezensionsexemplar mit der hochwertigen Leinenhaptik.
Aus dem amerikanischen Englisch von Melanie Walz und mit einem Nachwort von Barbara Kingsolver
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