Ich schreibe jetzt gleich am Anfang, dass ich von dem Roman „Beeren pflücken“ ein bisschen enttäuscht war. Das lag wahrscheinlich an meinen falschen Erwartungen, denn der Roman ist eigentlich ein toller, emotionaler Schmöker, der gerade am Ende gewaltig auf die Tränendrüse drückt.
Ein Roman über die indigene Mi‘kmaq Kultur in den USA und über Ethnie, wie ich dachte und wie es auf dem Klappentext steht, ist es aber nicht.
Und es ist auch kein Roman über das rätselhafte Verschwinden eines vierjährigen Mädchens und dessen Verbleib.
Denn was aus der kleinen Ruthie geworden ist, die im Sommer beim Beeren pflücken verschwindet, weiß ich als Leser*in eigentlich die ganze Zeit.
Der Roman spielt über viele Jahrzehnte und ist aus zwei Perspektiven erzählt.
Zum einen die von Joe, einem der Brüder von Ruthie, und der, der sie zuletzt gesehen hat. Und zum anderen von Norma, die als Einzelkind in einer wohlhabenden, aber emotional distanzierten Familie aufwächst.
Und komischerweise sind alle Bilder von Norma von vor ihrem 5. Lebensjahr angeblich bei einem Feuer verbrannt. Komische Träume mit Menschen, die sie nicht zuordnen kann, suchen sie als Kind immer wieder heim, ihre Hautfarbe ist dunkler als die der anderen…
Da muss ich wahrlich kein Sherlock Holmes sein, um die Punkte zu verbinden.
Statt auf die Auflösung des Rätsels konzentriert sich Peters auf die unterschiedlichen Lebenswege ihrer Figuren.
Das Verschwinden seiner kleinen Schwester wird für Joe nicht der einzige schwere Schicksalsschlag bleiben. Die harte Kindheit und Jugend hinterlassen ihre Spuren und er wächst zu einem Mann heran, dem es schwerfällt seine Gefühle zu kontrollieren und der Verantwortung aus dem Weg geht.
Mit weitreichenden Konsequenzen.
Norma hingegen leidet unter ihrer überfürsorglichen Mutter und dem abwesenden Vater, findet aber in anderen Menschen liebevolle Unterstützung. Auch ihr Lebensweg ist überschattet von Schuldgefühlen und einem unbestimmten Gefühl der Andersartigkeit.
„Manche Geheimnisse sind so finster, dass sie am besten begraben bleiben. Selbst Menschen, die Licht und Glück ausstrahlen, haben dunkle Geheimnisse. Manchmal verfestigt sich eine Lüge so sehr, dass sie zur Wahrheit wird, versteckt in den Tiefen des Geistes, bis der Tod sie auslöscht und die Welt ein wenig anders hinterlässt.“
emotionales und vorhersehbares Finale
Obwohl die Lebensgeschichten der beiden gegensätzlichen Figuren von Peters sehr schön und stimmig ausgearbeitet wurden, fehlt mir ein bisschen der psychologische Tiefgang. Gerade die Darstellung von Joes Gewalttätigkeit finde ich in Verbindung mit seinem harten Schicksal fast an der Grenze zur Rechtfertigung. Vielleicht bin ich hier aber auch überempfindlich und ungerecht.
Besonders schade finde ich, dass Peters, die selbst eine Autorin mit Mi‘kmaq Abstammung ist, so wenig auf diesen Stamm der Native Americans eingeht, der heute hauptsächlich in Kanada und im östlichen Nordamerika lebt.
Auch finde ich persönlich, dass Peters den Spannungsbogen dramaturgisch zu weit ausreizt, bis sie dann in das abzusehende tränenevozierende Finale übergeht. Aber das ist definitiv Ansichtssache. Wer auf das ganz große Gefühlskino steht, hält zum Schluss am besten Taschentücher bereit.
Bei mir wird „Beeren pflücken“ eher keine tiefen Spuren im Gedächtnis hinterlassen, was auch völlig in Ordnung ist. Manchmal ist mein Kopf schon voll genug von literarischen schwergewichtigen Ziegelsteinen.
Vielen Dank an Harper Collins für das Rezensionsexemplar mit dem wunderschönen Cover. Danke und viel Erfolg an Amanda Peters für den Roman!
Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
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