Dieses Jahr habe ich bereits einige neu erschienene Debütromane gelesen. Die „Botanik des Wahnsinns“ gehörte für mich zu den besonders vielversprechenden.
Englers Text erweckt den Eindruck von sehr großer autofiktionaler, wenn nicht gar autobiografischer, Nähe. Doch es steht „Roman“ auf dem Cover und ich vermute, dass Engler diese Form als Schutz für seine Familie und sich selbst gewählt hat, denn sie bietet die Freiheit zur Verfremdung, Ergänzung und Veränderung.
Passend dazu lehrt Engler an der Universität Wien mit Fokus auf kreatives Schreiben und narrative Identität.
Der Mann kennt sich also aus und kann definitiv schreiben.
Doch von irgendeiner professionell bedingten Distanz merke ich beim Lesen seines Romans nichts.
Sein Ich-Erzähler lässt mich ganz nah an seine Ängste, Gefühle und Familiengeschichte heran.
Die sind vom Wahnsinn geprägt. Psychische Erkrankungen ziehen sich durch die Generationen. Das Leben von Englers Erzähler ist überschattet von der großen Angst, selbst zu erkranken, davon verrückt zu werden.
“Schizophrenie? Sucht? Depression? Bipolare Störung? Mein Stammbaum ist befallen von so ziemlich jeder Plage, die in den Bibeln der Psychiatrie zu finden ist. In wessen Fußstapfen soll ich treten? Welche verirrte Linie weiterführen? Die Depression meines Vaters? Die Schizophrenie meines Großvaters? Die Todessehnsucht meiner Großmutter? Die Abhängigkeit meiner Mutter?”
Mich bewegt es sehr, wenn Engler herausarbeitet, wie sowohl die Mutter als auch der Vater das Leben ihrer eigenen verlorenen Eltern wiederholen, trotz ihrer enormen Versuche diesem Schicksal zu entkommen.
Ein Schicksal, dem der Erzähler ebenfalls folgen wird?
Tatsächlich landet er schließlich selbst unausweichlich in der Psychiatrie – allerdings als Psychologe. Er will mehr über die Erkrankungen wissen, die das Leben seiner Eltern und Vorfahren so vereinnahmt hat.
Was er in der Psychiatrie beobachtet und lernt widerspricht der verbreiteten Meinung von Nichtbetroffenen, nämlich dass alles behandelbar und therapierbar ist. Und nur geheilte und/oder gesunde Menschen ein lebenswertes und gutes Leben führen können.
„Die Vorstellung eines glücklichen, symptomfreien Lebens ist eine Illusion.“
Ich finde die Fragen, die Engler in seinem Roman aufwirft gehen sehr dicht an die Komplexität des echten Lebens heran, er bildet es so differenziert und und reflektiert ab, wie ich es nicht so oft in Romanen lese und was mich immer sehr bewegt und freut.
Stilistisch schreibt Engler auf hohem literarischen Niveau, wie ich finde. An zitierfähigen Zitaten gibt es keinen Mangel und ich fühle mich trotz vieler Zeit- und Szenenwechsel gut betreut.
Vieles findet neben den Geisteskrankheiten Eingang in seinen sehr dichten Text: Klassenauf- und Abstieg, Eltern-Kind Beziehung, aus der Not geborene toxische Beziehungen, die Möglichkeit von Vergebung und Aussöhnung mit der eigenen Geschichte.
Letztendlich lässt es Englers Erzähler offen, wie weit es ihm gelingt, sich von der familiären Vorbestimmung zu lösen.
Und letztendlich ist es vielleicht auch gar nicht die Frage, die wirklich zählt.
Vielen lieben Dank an den Dumont Buchverlag für das Rezensionsexemplar mit der tollen Gestaltung. Danke und viel Erfolg an Leon Engler für den Roman!
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