Ich finde ja, dass Édouard Louis ein super starker autofiktionaler Erzähler ist. Es ist sicher auch kein Geheimnis, dass die Romane von Louis nicht nur autofiktional, sondern sogar autobiografisch gefärbt sind. In seinem neuesten Roman “Der Absturz“ steht das Leben des älteren Bruders des Erzählers Édouard im Fokus. Oder besser: Sein Leben und sein früher Tod, mit dem der Roman dramatisch beginnt.
Der Bruder wird mit nur 38 Jahren bewusstlos in seiner Wohnung gefunden. Der Alkohol hatte seine Leber und seine Nieren zerstört und durch den Herzstillstand letztendlich sein Gehirn abgetötet. Die Mutter musste die Entscheidung treffen, die lebenserhaltenden Maschinen abzuschalten.
Der Ich-Erzähler, der von seiner Mutter telefonisch benachrichtigt wird, hatte seinen Bruder seit Jahren nicht mehr gesehen, und die Beziehung der beiden war schon lange abgebrochen.
In „Der Absturz“ blickt Louis auf ein Leben, das anders als das Leben seines Erzählers nicht vom Weg nach oben gekennzeichnet war, sondern von dem nach unten.
Auf einen Menschen, der ständig an seinen zu großen Träumen scheitert, bis er es gar nicht mehr versucht. Der seine eigene Machtlosigkeit viele Jahre in Gewalt ausdrückte, bis ihm letztendlich der Hass als Einziges blieb.
In 16 Fakten denkt der Erzähler Édouard an seinen Bruder zurück, a die gemeinsame erlebte Zeit und wie die Familie und die Klassenzugehörigkeit sie beide prägte. Édouard liebte seinen Bruder nicht, dessen Gewalt, Rücksichtslosigkeit und Queerfeindlichkeit ihn abstießen. Dennoch gibt es in seinen Erinnerungen auch Momente voller Verständnis und Verbundenheit mit dem Schicksal des Bruders.
Hätte es auch sein eigenes werden können?
Es ist nicht mein erster Roman von Louis und wie immer bin ich sehr beeindruckt von seiner großen Fähigkeit, eine Geschichte zu erzählen. Er kann die Ereignisse so weit zu verdichten und zu dramatisieren, dass ihr Kern deutlich zu Tage tritt. Dabei geht es Louis durchaus nicht um Eindeutigkeit, sondern um die Unmöglichkeit, eine finale Wahrheit oder alle Fakten zu kennen. Es ist nur möglich, sich einem Menschen und seinem Leben anzunähern. Die letztendlichen Antworten auf das Warum sind nie vollständig von außen zu ergründen.
Literarisch bewegt sich Louis gewohnt selbstsicher. Da gibt es kein Entkommen vor der emotionalen Sogkraft seines Textes. Ich bin mir während des Lesens bewusst, dass ich mit voyeuristischem Genuss einem weiteren Teil von Louis Familienverwertung beiwohne und möchte es doch nicht lassen.
Mir ist auch bewusst, dass Louis sein großes schriftstellerisches Können durchaus auch in gewisser Weise maximal manipulativ einsetzt, um bei den Lesenden die maximale emotionale Wirkung zu erzeugen. Ich finde das gut.
Für mich war „Der Absturz“ der schönste, vielschichtigste und emotionalste Roman, den ich bis jetzt von Louis gelesen habe, und ich hoffe auf mehr.
Vielen lieben Dank an die Aufbau Verlage für das gewünschte Rezensionsexemplar. Danke und viel Erfolg an Édouard Louis für seinen neuen Roman!
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Schreibe einen Kommentar