Der gute Onkel

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Der gute Onkel Bettina Göring

Mein verdammtes deutsches Erbe von Bettina Göring, erzählt von Melissa Müller

Massiver Generationenkonflikt

Die Fragen und das Unverständnis der jungen Bettina Göring über die fortdauernde Heroisierung und Glorifizierung des „guten Onkels“ kumulieren in ihrer Großmutter Ilse Göring, die sie als Kind als harte, immer noch verblendete und fehlgeleitete Frau wahrnimmt. Ilse ist es auch, die in Bettina Görings Geschichte und der nachträglichen Aufarbeitung ihrer Vergangenheit einen wichtigen Platz einnimmt. Durch die Recherchen für dieses Buch wird das schwarze-weiße Bild vom Leben ihrer Großmutter komplexer, es nimmt Grautöne an. 

Ich muss sagen, dass ich mit den vielen Zeitsprüngen im ersten Teil des Buches, als der unglaublich weit aufgefächerte Göring-Clan und dessen verschiedene Famillienlinien und deren Geschichten aufgedröselt werden, nicht gut zurecht kam. Ich konnte kaum den Überblick behalten und hätte mir eindeutig eine stringentere und chronologischere Erzählweise gewünscht.

Bettina Görings eigene Lebensgeschichte ist faszinierend, bunt und geprägt von einer großen Abenteuer- und Reiselust. Aber auch von den transgenerationalen Schuldgefühlen und der Suche nach Identität und Lebenssinn. Sie verlässt sehr jung im Streit mit ihrem Vater das Elternhaus und schließt sich verschiedenen linken Gruppierungen an, wie es sie damals ausgehend von der 68er Bewegung häufig in Deutschland gab.

Ich finde diese Passagen sehr interessant und sie geben mir einen kleinen, authentischen Einblick in die deutsche Zeitgeschichte. Aber Bettina Göring bleibt nicht nur in Deutschland, sie schildert ihre verschiedenen Reisen, die nicht immer nur mit guten Erfahrungen enden. Mehrmals erleidet sie psychische Zusammenbrüche, die nicht immer adäquat behandelt werden.

Die lange Suche nach sich selbst

Äußerst interessant finde ich die Beschreibungen Görings aus ihrer Zeit in Pune, Indien und später in Oregon, USA, die sie in der Gemeinschaft der Bhagwan-Bewegung erlebt. Obwohl Bettina Göring eigentlich durch ihre Vorgeschichte geschult sein sollte, faschistoide Tendenzen zu erkennen, bringt sie damals nicht die eindeutigen Warnzeichen mit dem Abdriften der Sekte in fatale Machtstrukturen in Verbindung.

Ich finde, in ihrer Geschichte wird deutlich wie sehr sich die Menschen nach Zugehörigkeit zu einer identitätsstiftenden und sinngebende Gruppierung sehnen können. Und wie viel sie bereit sind dafür auszublenden.

Dass Parteien und Demagogen diese Sehnsucht auch heute wieder ausnutzen, macht Göring zum Schluss mehr als deutlich. In ihren abschließenden Worte appelliert sie an uns alle, genau hinzusehen statt wegzusehen und zitiert den Satiriker Jan Böhmermann:

„Wer immer schon mal wissen wollte, wie „das mit den Nazis“ in Deutschland „damals einfach so passieren konnte“, lebt in der richtigen Zeit.„

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