»Und die rasende Wut der Väter wird wieder aufleben
bei den Söhnen in jeder Generation.«
Seneca, Thyestes
Das Eingangszitat und die ersten Seiten, die steinzeitliche Szenen schildern, machen mir sofort klar: das wird archaisch werden.
Und es wurde wahrhaft archaisch und brachial, sowohl inhaltlich als auch literarisch.
Jean-Baptist Del Amo ist ein französischer Autor und hat bereits mehrere aufsehenerregende und preisgekrönte Romane veröffentlich. Auf Deutsch ist zuletzt „Tierreich“ erschienen. „Der Menschensohn“ ist sein vierter Roman.
Und der Roman mutet fast wie ein Kammerspiel an: die Figuren sind sehr reduziert, es gibt einen Vater, eine Mutter und ein Kind. Es gibt keinen Namen. Der Schauplatz ist eine abgelegene Hütte in den Bergen. Oder besser gesagt die ungezähmte Natur.
In Rückblenden erfahre ich mehr über die kleine Familie. Der Vater hatte die Mutter vor einigen Jahren, als der Junge noch klein war, verlassen und ist einfach verschwunden. Die sehr junge Mutter musste sich und das Kind alleine durchbringen und hat sich aber nach einer Weile in ihrem neuen Alltag zurechtgefunden.
Doch plötzlich taucht der Vater wieder auf, fordert eine zweite Chance ein. Der Junge ist mittlerweile 9 Jahre alt.
The Revenant?
Für einen Neuanfang will der Vater die Mutter und das Kind mit in die Berge nehmen, in die Hütte in der er selbst einst mit seinem Vater aufgewachsen ist. Er hatte die Hütte damals als junger Erwachsener verlassen, weil sein Vater nicht mehr Herr seiner Sinne war und gegen sich und die Natur gewütet hat.
Der Alte ist dann dort oben einsam und elend gestorben.
»Aber trotzdem, aber trotzdem, allein zu enden, und auch noch so, das ist nicht menschlich. Das wünscht man keinem.«
Vom zurückgekehrten Vater, der jetzt die Führungsrolle in der Familie beansprucht, geht ein Gefühl der Bedrohung aus, und so fügt sich die Mutter und alle ziehen in die Berghütte.
Dort ist Familie dann alleine mit sich und der Natur. Die Natur oben in den Bergen ist wild, atemberaubend schön und nicht kontrollierbar. Genauso wie die Natur beschreibt Del Amo auch den Vater und die Mutter. Neben die wunderbaren Naturschilderungen stellt er die Beschreibungen der ursprünglichen Körperlichkeiten von Mann und Frau.
Es ist die Erzählperspektive des Jungen, mit der ich die Geschichte verfolge.
Der Vater, der in der Hütte aufgewachsen ist, erzählt dem Jungen von seinem Alten, der damals vor der Zivilisation und aus Trauer in die Berge floh. Der Junge erkennt, dass viele der fehlgeleiteten Glaubenssätze des Alten, die aus Schmerz und Angst geboren wurden, auch in seinem Vater stecken.
Die Vergangenheit wiederholt sich
Allmählich wird klar, dass es zwischen dem Vater und der Mutter tiefe Gräben und verdrängte Gefühle gibt.
Und es gibt auch Geheimnisse, die oben in den Bergen immer mehr an Gewicht gewinnen…
Ich habe eine Weile darüber nachgedacht, ob ich die harten Aussagen des Romans als nihilistisch empfinde und denke jetzt, dass das nicht der Kern ist. Ich denke vielmehr, dass Del Amo in „Der Menschensohn“ zeigt, wie dünn die Schicht der Zivilisation ist, die uns von reinen Monstern ohne moralisches Gewissen unterscheidet. Er zeigt, wie schnell sich ein Mensch (ein Mann?) in seiner eigenen Glaubenswelt verlieren kann, die andere Menschen zu Feinden werden lässt. Und vor allem, dass in uns allen Überlebensinstinkte stecken, die vielleicht in unserem modernen Alltag keine große Rolle mehr spielen, aber in Gefahrensituation und bei Bedrohung wieder in den Vordergrund treten.
Und die Bedrohung ist bei Del Amo permanent präsent und geht nicht von der Natur aus, sondern vom Menschen (Mann?).
Wirklich sehr atmosphärisch baut Del Amo einen krassen Spannungsbogen auf, der sich gegen Ende hin stark verdichtet. Seinen Schreibstil empfinde ich genauso brachial wie die Geschichte, denn er ist jenseits von Befindlichkeiten oder Sentimentalitäten.
Als ganz großes Kino und überrascht lese ich, wie er auf den letzten Seiten wieder die steinzeitlichen Szenen der ersten Seiten aufgreift.
Ich beendete das Buch mit angehaltenen Atem.
Definitiv ein Roman der am anderen Ende der Skala vom Feel-Good Buch steht und dich in Kontakt mit den düsteren Seiten des Menschseins bringen kann.
„Der Menschensohn“ ist dabei spannend und fesselnd geschrieben wie ein Thriller!
Ein großes Dankeschön an den Matthes und Seitz Berlin Verlag für das großartige und gewünschte Rezensionsexemplar. Danke und viel Erfolg an @jb.del.amo für den Roman!
Aus dem Französischen von Karin Uttendörfer
Hinweis:
Ich hatte das bereits schonmal bei einem anderen Roman („Mutternichts“ von Christine Vescoli) erwähnt und möchte deswegen konsistent darauf hinweisen, dass das Z-Wort auf einer Seite [S. 203] benutzt wird. Während bei dem anderen Roman meine Kritik darauf abzielte, dass das Wort grundlos verwendet wurde, würde ich es hier, da es in der direkten Rede verwendet wird, als mutmaßlich an die zeitgemäßen Redeweise der Vergangenheit angepasst verwendet sehen. Dennoch gibt es keinen vor-oder nachgestellten Disclaimer, wie ich es schon bei anderen Romanen auf Grund der Verwendung von heute nicht mehr zeitgemäßen Bezeichnungen gesehen habe.
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