REZENSION
Das Thema Eltern-Kind Beziehung ist für mich kein Einfaches und sehr komplexbehaftet. Mein gut funktionierender Verdrängungsmechanismus, den ich zwischen Selbstschutz und Verleugnung nicht einordnen kann, lässt mich meistens um Literatur, die mich emotional zu tief in das Thema ziehen könnten, einen großen Bogen machen.
Dennoch hat mich „Mutternichts“ spontan angesprochen und ich wollte das als kraftvoll-poetisch beschriebene Debüt von Vescoli mit dem Thema Mutter-Tochter-Beziehung sehr gerne lesen.
Die Mutter der Ich-Erzählerin ist gestorben, wie sie gelebt hat: unaufgeregt, ohne viele Worte. Zurück bleibt ein Nichts.
Es ist das nicht greifbare, das Nichts, das Mutternichts, das die Beziehung zwischen Mutter und Tochter definiert hat. Der eigentliche Wesenskern ihrer Mutter hat sich der Tochter immer entzogen.
Nach dem Tod der Mutter kommen die Fragen.
Die Tochter muss mehr über die Mutter wissen, um dem Mutternichts auf den Grund zu gehen. Sie will sich die Mutter in deren Vergangenheit vorstellen können, um ihr näher zu kommen.
Ist es auch die Suche nach eigener Identität?
Die Tochter will die Orte sehen, den Hof, auf dem ihre Mutter als Dirn gearbeitet hat. Kann sie das Wesen ihrer Mutter dort finden?
Die Mutter musste schon als Kind hart arbeiten und etwas nutze sein.
Sie, die Worte und Gedichte liebt, wird später nie über ihre alltäglichen Verrichtungen ihrer Vergangenheit sprechen.
“Als würde die Geschichte schmutzen.”
Die Erzählerin muss noch weiterzurückgehen bis zur Großmutter und Mutter ihrer Mutter, und findet ein weitere Leben voller unausgesprochener Not.
Sich an Spekulationen vorantastend, im nicht gesagten mutmaßen.
Mutters Erzählungen sparen so viele Dinge aus, beschränken sich auf Anekdoten. Ihre Vergangenheit wird ein Konjunktiv bleiben.
Was bleibt?
“Es kann sein, dass die Angst umeinander der Ort war, an den wir zusammen hingehörten. An dem wir uns voreinander versteckten, während wir aufeinander schauten.”
Es ist dieser Widerspruch und das ambivalente Verhältnis von Liebe und Distanz, den Vescoli im Kern dieser Mutter-Tochter-Beziehung sichtbar macht.
Ich spüre das Ringen der Erzählerin, ihren Wunsch das Nichts um ihre Mutter zu durchdringen, unmittelbar aus ihren Worten. Der Text ist stellenweise merkwürdig eindringlich, nicht emotional, nein, er ist spröde und poetisch in seiner Ausdrucksweise.
So wird auch meine Rezension wenig eindeutig bleiben. Vescolis ungewöhnlicher und anspruchsvoller Text hielt auch mich in einer Distanz, die mir den Zugang zur Erzählerin schwer gemacht hat, mir aber nicht den Blick für die sprachliche Kraft des Textes verstellt hat.
Vielen lieben Dank an den Salzburger Otto Müller Verlag für das Rezensionsexemplar und natürlich an Christine Vescoli für ihren Roman.
Anmerkung: an einer Stelle verwendet die Erzählerin einen Begriff, den die damit gemeinten Volksgruppen der Sinti und Roma sowie der Jenischen und andere Volksgruppen mehrheitlich ablehnen und der als stigmatisierend und veraltet gilt. Dass die Verwendung an dieser Stelle einem übergeordnetem Kontext dient, konnte ich nicht erkennen.
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