Okay, das Fazit diesmal zuerst: „Die erste halbe Stunde im Paradies“ war für mich ein guter Roman, den ich gerne und zügig gelesen habe, bei dem ich allerdings ein paar kleinere und einen sehr persönlichen Kritikpunkt hatte. Dazu später mehr.
Der Roman mit dem wunderschönen Cover ist nach „Vom Versuch, einen silbernen Aal zu fangen“ die zweite Romanveröfftenlichung der Autorin, die u.a. als Literaturvermittlerin tätig ist und die Lesereihe TRANSIT gegründet hat.
Sie erzählt den Roman auf zwei Erzählebenen, von denen die eine in der Gegenwart der erwachsenen Geschwister Anne und Kai spielt, die andere schaut in Rückblicken in die gemeinsame Kindheit der beiden.
Eigentlich waren Anne, Kai und ihre Mutter eine relative glückliche und intakte Familie, bis bei der Mutter eine unheilbare chronische Krankheit diagnostiziert wird und sich ihr Gesundheitszustand drastisch verschlechtert. Die 11-jährige Anne und der 17-jährige Kai sind mit der Situation und später mit der zunehmenden Pflege der Mutter komplett überfordert, zumal sich die stolze Frau gegen Hilfe von außen verwehrt.
Adomeit schildert den gesundheitlich Abbau der Mutter in drastischen und eindringlichen Szenen. Vor allem Annes Hilflosigkeit und Verzweiflung ist deutlich spürbar.
„Doch es ergab keinen Sinn, ihr das zu sagen, meine Gefühle waren angesichts ihrer Krankheit und ihrer Einschränkungen klein und unwichtig.“
Es lastet viel zu viel Verantwortung auf den Schulter von Kai und Anne und die enge Beziehung zwischen den Geschwistern und die Familie zerbricht schließlich unter der Last.
Als Erwachsene Anfang 30 ist Anne eine ehrgeizige und erfolgreiche Pharmareferentin, die ihr Leben und ihre Karriere komplett unter Kontrolle hat. Mit ihrem Bruder Kai hat sei vielen Jahren keinen Kontakt mehr.
Zuviel Verantwortung für Kinderschultern
Als Anne auf einem Seminar ihres Konzerns ist, bekommt sie plötzlich einen Anruf von Kai. Er bittet sie, ihn aus einer Entzugsklinik abzuholen und für eine Nacht bei sich aufzunehmen.
Anne zögert. Ihr Groll auf den Bruder, deren Ursache mir im Laufe des Romans aufgedeckt wird, ist noch groß.
Adomeit hat die Erzählebenen geschickt miteinander verzahnt. So entsteht bei mir allmählich ein Bild der vergangenen Ereignisse und der Konsequenzen, die sich bis in die Gegenwart ziehen.
„Aber die erste halbe Stunde im Paradies – die Zeitspanne, in der niemand etwas von einem will oder braucht und man selbst auch von niemandem etwas will oder braucht und daher nichts wehtun kann -, diese erste halbe Stunde stelle ich mir vor wie Glück.“
Am besten gefielen mir die Passagen von Anna auf dem Pharmakongress bzw. die Beschreibungen aus den Anfängen der Krankheit der Mutter. Auch anderen Passagen waren psychologisch detailiert ausgearbeitet und haben mir gut gefallen. Allerdings war das meiner Meinung nach nicht durchgehend der Fall. Gerade gegen Ende des Romans, den ich sehr passend und stimmig fand, hätte ich mir in einigen Teilen mehr Tiefgang gewünscht und ein klareres Ausloten von Annes inneren Konflikten. Die Dramatik, die Adomeit durch äußere Faktoren hinzugibt, hätte es für mich gar nicht gebraucht um die Situation zuzuspitzen. Meinen persönlichen und für dich wahrscheinlich irrelevanten (spoilerfreien) Kritikpunkt packe ich nach unten in die Kommentare. Dann kannst du ihn lesen oder auch nicht.
An Adomeits Schreibstil, der eine schöne Mischung aus eingängigen, leichtem Anspruch und Humor habe ich mich sehr erfreut. Und zwar derart, dass ich mir jederzeit wieder einen Roman von Janine Adomeit holen würde, wenn er mich thematisch anspricht!
Vielen lieben Dank an den Arche Verlag und Politycki & Partner für das wunderbare Rezensionsexemplar. Danke und viel Erfolg an Janine Adomeit für „Die erste halbe Stunde im Paradies“!
Persönlicher Kritikpunkt
❗️ Mein sehr persönlicher Kritikpunkt, der dich eventuell beim Lesen gar nicht tangieren wird, liegt an der Krankheit der Mutter. Diese wird zwar nicht namentlich genannt, aber (natürlich) ist mir sofort klar, welche Krankheit gemeint ist. Und allen, die schon näher mit ihr in Berührung gekommen sind, auch.
In der Literatur, Filmen und TV wird diese Krankheit immer dann aus dem Hut gezaubert, wenn jemanden ein Schicksal ereilen soll, dass ganz besonders schlimm ist und auf jeden Fall unverschuldet und unangekündigt auftritt. (Im Gegensatz zu Krebs, bei dem immer eine gewisse vermeintliche Selbstverantwortung mitschwingt). Und dann nimmt die Krankheit, der Dramatik wegen, im Zeitraffer den Worst Case Verlauf. Oft werden dann auch Symptome, Medikamente und Verlauf falsch oder nur oberflächlich recherchiert. Beides führt dazu, dass das Bild dieser Krankheit in der breiten, nicht betroffenen, Öffentlichkeit immer noch verfälscht wird und mit Vorurteilen behaftet ist.
Adomeits Beschreibung der Krankheit und ihrer Symptome ist stimmig, sie nimmt aber einen drastischen, beschleunigten und extremen Verlauf. Der ist natürlich leider durchaus möglich, ist aber mit der Diagnose glücklicherweise nicht zwangsläufig der Fall. Auch Adomeit skizziert das maximale und stereotype Schreckensbild. Das macht mich als, in dieser Hinsicht sensiblen Leserin, sehr betroffen. Und stört mich auch in dieser Vereinfachung der Krankheit als dramatisches Element.
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