Ich lasse mich nicht nur bookfluencen, sondern kaufe auch spontan. Dann greife ich intuitiv nach ansprechenden Covern, Titeln und Klappentexten.
Ein solcher Griff war der nach „Die Rache ist mein“. Der Klappentext beschreibt mir die Geschichte einer Anwältin, die eine Mutter verteidigen soll, die ihre drei sehr kleinen Kinder ermordet hat und verspricht mir einen aufwühlenden Roman über Ungewissheit und Obsession und ein abgründiges Spiel mit unseren Erwartungen und Ängsten…
Klingt nach einer Story, die ich so schon öfter gelesen habe und ich erwartete einen leicht verdaulichen, feministisch angehauchten Psychokrimi.
Ähm, also, so ist der Roman nicht. Also leicht verdaulich.
Würde ich mich auch nur ein bißchen auskennen, hätte ich vielleicht mitbekommen, dass es sich bei der vielfach preisgekrönten Autorin Marie NDiaye um „wohl eine der aufregendsten und verstörendsten unter den Schriftstellerinnen“ handelt (laut Alice Schwarzer).
So ist auch „Die Rache ist mein“ ein vielschichtiger, komplexer Gesellschaftsroman, bei dem der schreckliche Infantizid mehr ein Symptom als ein aufzuklärender Tathergang ist.
NDiayes Schreibstil wirkt auf mich extrem distanziert und old fashioned, und erinnert mich an Karine Tuil. Das ist nicht wirklich mein Ding, trotzdem möchte ich nicht aufhören zu lesen. Besonders die seitenlangen ununterbrochenen Monologe der angeklagten Mutter und die des dazugehörigen Vaters üben einen unglaublichen Sog aus und verwandeln den eigentlich schwer zugänglichen Text in einen Pageturner.
Der Handlungsstrang mit der Kindermörderin und ihrem Ehemann bleibt nicht der einzige in dieser dichten Geschichte. Fast noch zentraler ist die Beziehung der Anwältin, Maître Susan, zu ihrer Haushaltshilfe Sharon. Hier dekliniert NDiaye die Wechselwirkungen einer klassistischen Gesellschaft und deren Abhängigkeitsstrukturen. Dazu kommen Beziehungsgeflechte zu Eltern, Partner und einem Stiefkind. Alles ist miteinander verknüpft oder doch etwa nicht?
Und was geschah eigentlich mit Maître Susan als kleines Mädchen, der großen Zäsur in ihrem Leben? Nie wird etwas ausgesprochen, aber umso mehr angedeutet. Vieles bleibt unergründlich und unauflösbar, so wie ein Jucken, das vom Kratzen nicht gelindert wird.
Ich kann viele Themen in diesem ungewöhnlichen Roman ausmachen, doch ich bin sicher, dass mir einige der komplexeren Deutungsebenen verschlossen geblieben sind, was mir meine Recherche in den Rezensionen der großen Zeitungen bestätigt.
Für mich ein herausfordernder, überraschender Roman außerhalb meiner ausgetretenen Lesepfade, bereichernd und lohnend. Aber fairerweise mehr eine Empfehlung für Leser*innen, die gerade mehr als Unterhaltung und Zerstreuung suchen.
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer
Erstmals auf Deutsch erschienen beim Suhrkamp Verlag im Herbst 2021, mittlerweile auch als Taschenbuch erhältlich.
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