Ich stehe True Crime Formaten zwiespältig gegenüber, obwohl ich sie zeitweise sehr intensiv konsumiert habe. Es gab lange Phasen in meinem Leben, in denen meine Aufmerksamkeitsspanne gerade für eine Stunde komprimiertes Verbrechen mit einer Mischung aus Schauer, Mitgefühl und Abscheu gereicht hat.
Doch True Crime Inhalte und Formate darauf zu reduzieren, ist zu unterkomplex. Das wird den zum Teil sehr hochwertig journalistisch aufbereiteten Produktionen nicht gerecht.
Denn die Analyse von Verbrechen kann über das Umfeld und die Gesellschaft, in denen sie verübt werden, Aufschluss geben. Die Psychologie von Tat und Täter*innen verrät uns oft viel über den Zustand unseres Zusammenlebens und die Abgründe, die auch in uns lauern könnten.
„Was waren diese beiden Angeklagten für Menschen? Litten sie an schweren psychischen Störungen? Oder waren sie Monster? »Es gibt keine Monster«, sagte Andreano zu den Journalisten, »wir sind es, die immer wieder Monster erschaffen, um unser Gewissen zu erleichtern.«“
Genau das macht für mich die Faszination von „Die Stadt der Lebenden“ aus. Lagioia blickt in seiner Mischung aus Reportage und Roman nicht nur in die menschlichen Abgründe, sondern vor allem in die Abgründe einer Stadt. Keiner beliebigen Stadt, sondern der ewigen Stadt. Der Stadt der Lebenden.
Rom – Die Stadt der Lebenden
Lagioia zeichnet das faszinierende Porträt einer verkommenen, moralisch verwahrlosten und korrumpierten Stadt, die auf der anderen Seite durch eine einzigartige und anarchische Freiheit verführerisch ist.
Das Eckdaten des Verbrechens, das Lagioia recherchiert und analysiert, kannte ich bereits, nicht aber die genaue Zusammensetztung des gesellschaftlichen Milieus, denen die beiden Täter entstammten. Die beiden Männer, die im Drogenrausch in einer kleinen Wohnung einen dritten, jüngeren Mann quälten und töteten, stammen aus den oberen, gutangesehenen Schichten Roms.
Das Verbrechen selbst erschütterte 2016 ganz Italien und löste eine Welle an Klassendiskussionen, Queerfeindlichkeit und sensationslüsternen Presseaktivitäten aus.
Nicola Lagioia hat den Fall von Anfang an detailliert recherchiert und in „Die Stadt der Lebenden“ äußerst fesselnd aufgearbeitet. In der Tradition von Capotes „Kaltblütig“ vermeidet er eigene moralische Wertung und überlässt diese mir als Leser*in. Mir gefallen auch die kleinen, autobiografischen Anteile, die Lagioia einfließen lässt. Das macht sein Buch nahbar und authentisch.
Für mich war „Die Stadt der Lebenden“ ein wahrer Pageturner. Den Schreibstil empfand ich trotz kleinerer möglicher Kritikpunkte als sehr gelungen!
Lesen- und empfehlenswerte Unterhaltung auf höchsten Niveau.
Mein Dankeschön geht an das Team Bloggerportal und an btb Verlag für das Rezensionsexemplar!
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull
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