Gehen – Beobachten – Erinnern
Das sind die Verben, die mir in „Halbnah“ häufig begegnen.
Der neue Roman von Anna Maria Stadler, die mit ihrem Debüt „Maremma“ auf der Shortlist des Österreichischen Buchpreises stand, ist ein Streifzug durch den öffentlichen Raum, durch die Stadt und ihre Umgebung.
Kata, Mira und Sarah sind darin die Protagonistinnen. An einem Abend gehen die drei Freundinnen nicht nach Hause, sondern jede streift für sich durch die Stadt. Jede der jungen Frauen hat ihre eigenen Gründe, warum sie heute nicht nach Hause möchte.
„Der Gedanke an ihre Wohnung löst einen Unwillen in ihr aus, und sie entscheidet, dass es am besten wäre, noch nicht nach Hause zurückzukehren.“
Obwohl sie sich kennen und Mira und Kata sogar Pflegeschwestern sind, geht jede für sich alleine durch die Stadt, sie besuchen unterschiedliche Orte, nehmen unterschiedliche Dinge war.
Sie beobachten, erinnern sich, lassen sich treiben
Sarah zieht von ihrem Freund Elias, mit dem sie schon lange keine gemeinsame Basis mehr hat in ein altes, stillgelegtes Krankenhaus ein. Wird es mit Benjamin anders sein?
Mira denkt beim Umherstreifen viel an ihre Kindheit, beobachtet viele kleine Szenen mit Kindern und ihren Eltern.
Katas Mutter wurde psychisch krank und sie kam als Pflegekind in Miras Familie. Beide Frauen teilen Erinnerungen. Jetzt ist Kata auf der Suche nach ihrer Mutter, die verwirrt ebenfalls durch die Stadt streift.
Obwohl auch die Gedanken und die Erinnerungen der Frauen lose umherschweifen, kommt bei jeder immer wieder die Frage nach Verantwortung auf. Welche Verantwortung haben sie als Individuum anderen gegenüber, für ihre Umwelt und ihr Umfeld, für die Menschen die sie lieben?
Wem gehört die Stadt?
Mira, Kata und Sarah bewegen sich als Frauen im öffentlichen Raum. Die Orte sind voller Erinnerungen. Sie schreiten vertraute Wege und Gedanken ab, die sich im Gehirn und in den den Beinen festgesetzt haben, betreten aber auch Neuland.
Die Frauen hätten einen Platz, zu dem sie gehen könnten. Stadler erwähnt aber auch jene, die keinen sicheren Platz zum Schlafen haben, die im öffentlichen Raum nur widerwillig geduldet werden.
Stadlers Roman hat wenig Handlung, keine stringente Plotline. Auch als Leser*in treibe ich durch die Seiten, begleite die Frauen durch die Stadt. Das hat auf mich einen wenig spektakulären, sondern vielmehr einen entschleunigenden Effekt. So wie das Cover von einer rotleuchtenden Verblendung verdeckt ist, so viele Geheimnisse bleiben für mich in Stadlers Text. Ich kann ihn nicht klar deuten. Ich sehe in den kurzen Kapiteln die Stadt, in der sich die Frauen bewegen. Ich sehe die wechselnden Elemente Wasser, Erde, Feuer, Luft.
Ich mochte das Rätselhafte, das Gefühl des Umherstreifens und Stadlers sehr ruhiges Erzählen.
Aber niemals würde ich „Halbnah“ meinen beiden Arbeitskollegen empfehlen, oder jemanden, der in einer Leseflaute steckt. Für mich war „Halbnah“ ein Roman, auf den ich mich einlassen musste, der trotz der nur 166 Seiten Zeit brauchte und den ich final weder als positiv noch als negativ bewerten möchte.
Ich würde ihn neutral als kleinen Streifzug stehen lassen, auf den du dich nur einlassen solltest, wenn du die Zeit hast und keine Erwartungen.
Vielen lieben Dank an den österreichischen Indieverlag Jung und Jung für das wunderschöne Rezensionsexemplar. Danke und viel Erfolg an Anna-Maria Stadler für den Roman!
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