Um Romane, die sich speziell mit dem Thema Kinderwunsch beschäftigen, hatte ich lange Zeit einen Bogen gemacht. Es wäre teilweise einfach zu schmerzhaft gewesen, denn der Kinderwunsch hatte mich selbst für mehr als ein Jahrzehnt in seinem unnachgiebigen Griff. Das waren quälende, obsessive Jahre, in denen ich nicht mehr das Gefühl hatte, die Kontrolle über meinen Gedanken und Wünsche zu haben.
Jetzt liegt diese Zeit hinter mir und bin bereit, mich auf eine literarischen Aufarbeitung des Themas einzulassen. Ja, ich möchte es sogar. Ich möchte mit den Worten und Erfahrungen anderer gleichzeitig meinen eigenen Distanz zu dieser Zeit vergrößern und sie emotional bearbeiten.
Deswegen war Tine Høegs Roman „Hunger“ ein Text, der mich sehr persönlich getroffen und abgeholt hat. Die dänische Autorin beschreibt darin über den brennenden und unerfüllten Kinderwunsch ihrer Erzählerin Mia.
Sie und ihr Partner Emil, der bereits zwei Kinder aus einer anderen Beziehung hat, wünschen sich schon länger ein gemeinsames Kind.
Aber Mia wird nicht schwanger. Sie wollen medizinische Hilfe in Anspruch nehmen.
In Form eines Tagebuchs erzählt Mia in der Ich-Perspektive kompromisslos offen von dem Kinderwunsch und ihren Gefühlen während der vergeblichen Versuche.
„dies ist ja meine Geschichte, sie handelt nicht von den Kindern oder Emil
sie handelt davon was eine Fertilitätsbehandlung mit einem Menschen macht“
Die Tagebuchschreiberin versucht ihren Kinderwunsch zu analysieren, kann ihn aber rational nicht greifen.
„ich will es mit allem was ich bin
die Sehnsucht nach einem Kind ist nicht rational. Die kommt
von einem Ort in mir der nicht das Gehirn ist“
Die Zeit, die sie mit Emils Kindern verbringt, sind gleichzeitig schmerzvoll, wenn sie die Ähnlichkeit zwischen Vater und Kindern entdeckt, und auch erfüllend, weil sie von ihnen akzeptiert und geliebt wird. Aber wird das ausreichend sein, wenn es mit dem eigenen Kind nicht klappen wird?
Die zyklischen Kinderwunschbehandlungen, die mit der Zeit immer invasiver werden, belasten den Körper und die Psyche stark. Ist es das alles wert? Ist die Beziehung zu Emil stark genug, um die zum Teil würdelosen Aspekte der Behandlung auszuhalten?
„Ich will Mutter sein, lieben mit Schrecken“
„Hunger“ ist in seiner stilistischen Form unglaublich persönlich und intensiv geschrieben. Ich kann mir vorstellen, dass einiges an autofiktionalen Anteilen eingeflossen ist, um diese psychologische Tiefe zu erreichen.
Høeg nimmt in ihrem Roman Bezug auf andere literarische Werke, lässt ihre Gedanken um ihren Kinderwunsch raumgreifend ausschweifen, setzt (ihren) den weiblichen Körper in gesellschaftskritischen Kontext. Wer einen stringenten Plot lesen möchte, wird hier nicht fündig. Wer gerne intensive, tief gehende und intime Literatur lesen will, aber definitiv.
„Hunger“ war für mich sowohl literarisch als auch thematisch ein absoluter Volltreffer. Ich wünschte mir für Mia, dass ihr Hunger gestillt wird.
Allerdings war der Roman nicht nur für mich mit meiner persönlichen Geschichte ein Highlight, sondern er war in Dänemark nach den Romanen „Neue Reisende“ (2020 und „Tour de Chambre“ (2022) ebenfalls ein Bestseller und wurde von Netflix verfilmt. Die Romanverfilmung soll dieses Jahr mit dem Titel „Eine Kopenhagener Liebesgeschichte“ zu sehen sein.
Vielen lieben Dank an den Literaturverlag Droschl und Kirchner Kommunikation für das wunderbare Rezensionsexemplar. Danke und viel Erfolg an Tine Høeg für ihren Roman!
Aus dem Dänischen von Gerd und Ingrid Weinreich
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