Die Norwegerin Linn Ullmann ist eine der bedeutendsten Autorinnen Skandinaviens, und ihre preisgekrönten Roman werden sowohl vom Publikum als auch von den Kritiker*innen gefeiert.
Ich lese mit „Mädchen, 1983“ meinen ersten Roman der renommierten Schriftstellerin.
Linn Ullmann ist außerdem die Tochter von Liv Ullmann und Ingmar Bergman, und 1983 ist sie 16 Jahre alt. 1983 ist sie noch ein Mädchen.
Der Roman ist autofiktional und handelt von ihr selbst. Er dreht sich zentral um eine Nacht im Jahr 1983, als Ullmann für Modelfotografien in Paris ist.
„Es war eine Nacht, die niemals endete und deren Reichweite ich jetzt, fast vierzig Jahre später, zu begreifen anstrebe.“
Ullmann nähert sich dieser für sie einschneidenden Nacht mehrmals und auf unterschiedliche Weise.
Immer wieder kommt sie auf den Moment zurück, an dem das junge Mädchen sich nachts in Paris verläuft und nicht mehr den Namen und die Adresse seines Hotels weiß.
Sie hat nur noch einen Zettel mit der Adresse des älteren Fotografen A.
Ohne Orientierung und Sprachkenntnisse sieht sie in ihrer Situation nur noch die Möglichkeit, sich an diese Adresse zu wenden.
40 Jahre später suchen sie die Erinnerungen an diese Nacht und die darauf folgenden Ereignisse wieder heim. Sie kommen in Form einer imaginierten Schattenschwester, die ihrem früheren Ich ähnelt.
„Du bist das Mädchen, das nicht sterben will, und jetzt, nachdem du viele Jahre fort warst, hast du dich wieder in mich verirrt.“
Mädchen, 1983
Während Ullmann fragmentarisch erzählt, versucht Kausalzusammenhänge zu erkennen, adressiert sie diese Schattenschwester. Möchte sie sie beschützen oder vorwarnen? Das Mädchen von 1983 ist heute schwer zu erkennen und existiert nur noch in Gedanken der älteren Ullmann. Oder?
Die von Ullmann heraufbeschworene Modewelt in Paris und die Beschreibung der Männer, die sie dominieren, macht mich sehr betroffen und widert mich an. Es sind ältere Männer, die auf Mädchen stehen, sie ausnutzen und dann fallenlassen. Gerne würde ich glauben, dass diese Machtstrukturen heute der Vergangenheit angehören, aber ich habe „My Body“ von Emily Ratajkowski gelesen. Ich sehe in deren Beschreibungen einer Branche, in der (sehr junge) Frauen immer noch nach den Masstäben ihrer sexuellen Verwertbarkeit für Männer beurteilt werden und die auf Äußerlichkeiten und Jugend fixiert ist, Parallelen zu Ullmanns Geschichte.
Allerdings möchte ich Ullmanns Roman nicht auf eine Geschichte über Missbrauch reduzieren. Das 16-jährige Mädchen, weiß was sexuelles Begehren und was Lust ist. Sie weiß auch, dass es ihr theoretisch möglich ist, einfach zu gehen. Stattdessen übergibt sie sich immer wieder im Bad von A.s Hotelzimmer.
Ullmanns Roman, der von Ali Smith als Verbindung von Biografie und Erzählung beschrieben wird, finde ich sehr vielschichtig und in seiner literarischen Darstellung anspruchsvoll. Ich denke an das Mädchen von 1983 und werde traurig. Ich hoffe sie findet Trost und Heimat in der Linn Ullmann von heute.
Vielen lieben Dank an Luchterhand Literatur für das schöne Rezensionsexemplar. Danke für diesen Roman an Linn Ullmann und viel Erfolg für die deutsche Übersetzung!
Aus dem Norwegischen von Paul Berf
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