„Schweben“ ist jetzt vielleicht kein Roman, der auf #bookstagram ungeteilte Begeisterung ausgelöst hat. Auch wenn die Presse den ersten Roman von Amira Ben Saoud äußerst positiv aufgenommen hat, sind die Stimmen der Leser*innen durchwachsen.
Ich persönlich fand den Roman ungewöhnlich assoziationsreich, ganz wunderbar und habe ihn super gerne gelesen. Allerdings hat der Roman nicht viel mit einer klassischen Dystopie zu tun, die Leser*innen vielleicht nach der Kurzbeschreibung erwarten könnten.
Vielmehr öffnet Ben Saoud mit ihrem futuristischen und dystopischen Setting freie Gedankenräume, die zum “Schweben” einladen.
Allein die Prämisse, dass Gewalt in ihrer Erzählwelt institutionell verboten ist, regt bei mir die Vorstellungskraft an.
„Da die Gewalt untersagt war, ging das System davon aus, dass sie nicht passierte“
Auch die Grundidee ihrer Handlung, nämlich dass ihre namenlose Erzählerin, bezahlt von trauernden Hinterbliebenen, verlorene Personen verkörpert und damit ihren Lebensunterhalt verdient, finde ich spannend.
Was sind die Motive derer, die eine solche Dienstleistung in Anspruch nehmen? Und vor allem, was macht es mit der Erzählerin, immer neue Identitäten anzunehmen – innerlich wie äußerlich.
Ben Saoud beschreibt ihre Figur ohne Namen als Frau mit widersprüchlichen Gefühlen auf der Suche nach ihrer eigenen Identität.
Als sie einen neuen Auftrag für eine „Begegnung“ annimmt, gerät sie in eine toxische Beziehung zu einem Mann, dessen verschwundene Lebensgefährten sie verkörpert. Obwohl sie die Situation schnell erkennt, kann sie sich nicht lösen. Warum?
Die Fragen nach den Mechanismen dieser Beziehung und die nach den inneren Verwicklungen, die sie in der Erzählerin auslöst, sind für mich die Kernfragen des Romans.
Es zieht sich ein Unbehagen durch den Roman und es fühlt sich wie eine Sehschwäche an oder wie ein Rätsel, dem ich auf den Grund gehen möchte.
Ein Unbehagen
Ein Gefühl, das ich auch manchmal im Alltag spüre, wenn ich für ein paar Minuten kurz gedanklich aus meinem Leben heraustrete und mich frage, wer ich eigentlich bin und in welcher Welt ich eigentlich lebe.
„Und dann würde ich in eine neue Rolle schlüpfen. Ich würde als die Frau leben, die ich mir aussuchen würde zu sein.“
Es stimmt vielleicht, dass manches in dem ersten Roman der österreichischen Journalistin nicht ganz rund und stimmig ist, aber für mich gehen sich diese Irritationen gut aus.
Der Schluss gefällt mir gut und erinnert mich krass an das Ende der Kurzgeschichte „Erhebung“ von Stephen King, und ich würde beide Texte sogar als thematisch ähnlich sehen. Wobei Ben Saouds Roman natürlich wesentlich vielschichtiger und komplexer ist und mehr Interpretationsebenen hat.
Für mich war „Schweben“ ein besonderer und in positiver Weise irritierender Roman, der mir Lust auf mehr Literatur von Amira Ben Saoud gemacht hat.
Vielen lieben Dank an den Zsolnay Verlag für das Rezensionsexemplar mit dem wunderschönen Cover. Danke und viel Erfolg an Amira Ben Saoud für den Roman!
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