Ich habe meine Großeltern nie richtig kennengelernt. Sie sind viel zu früh gestorben. Für einen richtigen Austausch über das Erleben ihrer Generation blieb keine Zeit und vielleicht auch keine Worte.
Annett Gröschner hat mit „Schwebende Lasten“ etwas ganz Wunderbares geschafft. Sie hat die Zeit meiner Großmutter wieder lebendig werden lassen und mir einen kleinen Einblick in ihre mögliche Lebensrealität geschenkt, der sich unglaublich echt und real anfühlt.
Denn in ihrem neuen Roman beschreibt die ausgezeichnete Berliner Schriftstellerin Annett Gröschner ganz linear den Lebensweg von Hanna, einer Frau ungefähr aus der Generation meiner Großeltern. Geboren 1913 kurz vor dem ersten Weltkrieg, erlebt sie als junge verheiratete Frau die Zeit zwischen den Kriegen und dann den Zweiten Weltkrieg. Sie erlebt mit, wie ihre Heimatstadt Magdeburg zerstört wird, verliert ein Kind und hilft als Trümmerfrau die Stadt wieder aufzubauen.
Ihre Ehe ist zweckmäßig und Gröschner bringt mir die Lebensumstände von Hannas Familie ganz nah und schildert sie so lebendig, dass sich jede Bewertung aus heutiger Sicht automatisch erübrigt.
Später arbeitet Hanna, obwohl sie eigentlich gelernte Blumenbinderin ist und ihre Leidenschaft eigentlich den Pflanzen und Blumen gilt, bis zur ihrer Rente als Kranfahrerin in einer Stahlgießerei.
Träume müssen dem Alltag weichen
Hanna ist keine Frau, die unerfüllten Träumen und Wünschen lange nachtrauert, sondern sie ist pragmatisch und macht das Beste aus der Situation.
Ist sie auch glücklich?
Auch wenn Hanna in ihrem Leben viel Leid erfährt, ihr größtenteils die Anerkennung für ihre Arbeit und Lebensleistung verwehrt bleibt, gibt es doch auch immer wieder kleine Momente des Glücks im Alltag.
Magdeburg gehört nach dem Krieg zur DDR und Gröschner beschreibt, wie der gesellschaftliche Wandel auch Hannas Familie beeinflusst.
Dabei geht es immer um die Kleinigkeiten im Alltag und im Arbeitsleben, nicht um die große Politik. Überhaupt gibt es wenig Politik in Gröschners Roman. Ihre Hanna ist kein politischer Mensch, sie möchte im Kleinen ein anständiger Mensch sein. Mit ihren Mitteln und Möglichkeiten möchte sie in ihrem Wirkungskreis das Richtige tun. So wie wahrscheinlich auch heute sehr viele Menschen in Deutschland.
Gröschners Erzählton ist ein wenig spröde und schlicht gehalten und fast frei von Sentimentalitäten. In ihrem Roman und in Hannas Leben ist kein Platz und keine Notwendigkeit für tiefergehende intellektuelle Reflektionen. Hannas Geschichte spricht allein für sich und das funktioniert unfassbar gut. Ich tauche während des Lesens immer weiter in Hannas Leben und in ihren Alltag ein. Sie wird vor meinen Augen farbig und lebendig.
Gröschner wirft in „Schwebende Lasten“ ein Schlaglicht auf ein Frauenleben, das fast das ganze Jahrhundert abdeckt und das die direkten Auswirkungen einer von Männern gemachten Politik zeigt, ohne allerdings ostentativ feministisch zu sein.
Und bei der Beschreibung von Hannas praktischer kurzer, silbriger-lila schimmernder Dauerwelle muss ich an meine Oma denken, die genau die gleiche Frisur trug.
Jetzt ist diese Frisur für mich mit einem Hintergrund und mit der Zeitgeschichte verknüpft.
Ich würde sagen, für mich war „Schwebende Lasten“ ein Highlight und ich weiß, dass es eine Weiterschreibung aus der Perspektive von Hannas Töchter geben wird, auf die ich mich sehr freue und die ich unbedingt lesen will.
„Hanna spürte, wie das Leben verging, dabei hatte sie noch viel zu wenig Verrücktes ausprobiert.“
Vielen lieben Dank an den C.H.Beck Literatur Verlag für das gewünschte Rezensionsexemplar. Danke und viel Erfolg an Annett Gröschner für den Roman!
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