Ich starte meistens sehr unvorbereitet und ohne großes Hintergrundwissen in einen neuen Roman und lasse ihn unvoreingenommen auf mich wirken.
Und das erste, was mir in „All die kleinen Vogelherzen“ sofort auffällt ist seine außergewöhnliche und wunderschöne Sprache, die von der Übersetzerin Sabine Längsfeld sehr behutsam und unverwässert in Deutsche übertragen wurde.
Auch die Erzählstruktur des Romans, der 2023 für den Booker Prize nominiert wurde, ist ungewöhnlich, wenn nicht gar gewöhnungsbedürftig.
Heute ist Neurodivergenz für die meisten kein Fremdwort mehr. Die Diagnose Autismus-Spektrumsstörung ist sicher keine Seltenheit mehr und durch vermehrte Aufklärung und Präsenz in den Medien glücklicherweise nicht mehr mit einem Stigma verbunden. Dennoch gibt es immer noch viele Missverständnisse und gewisse Vorbehalte gegenüber der vermeintlichen Trend Diagnose.
In den 80ern war Autismus allerdings nicht verbreitet bekannt und betroffene Menschen galten schlicht als anders, oder schlimmer noch, als nicht gesesllchaftsfähig.
In diesem Setting spielt Lloyd-Barlows Roman. Ihre Ich-Erzählerin Sunday ist anders. Sie lebt mit ihrer 16-jährigen Tochter Dolly zurückgezogen als geschiedene Frau auf dem Land und verdient mit einfacher Farmarbeit ihren Lebensunterhalt.
Ihre Kindheit, später auch ihre Ehe und auch jetzt ihre Mutterschaft standen immer unter dem Vorzeichen von Anders-seins, von Nicht-dazugehören und davon, die Regeln nicht zu verstehen.
Anziehende Extrovertiertheit
Sundays ruhiges und auf ihre Bedürfnisse abgestimmtes Leben bekommt eine frische Dynamik, als nebenan neue Nachbarn einziehen. Die lebhafte und extrovertierte Vita mit ihrem mondänen Ehemann Rollo faszinieren die Erzählerin und beschäfftigen ihre Gedanken. Sie sucht die Nähe des wohlhabenden Londoner Paares.
Die beiden sind charmant und kontaktfreudig und bald sind die beiden Familien miteinander befreundet.
Doch dabei wird es nicht bleiben. Sunday merkt nicht, dass es neben Vitas strahlendem Charismas auch dunklere Aspekte in deren Persönlichkeit lauern.
Lloyd-Barlow hat mit ihrer Figur Sunday eine ganz einzigartige Erzählerin geschaffen, die komplexe Themen wie familiäre Liebe, Freundschaft, Klassenunterschiede, Vorurteile und Traumata aus einer autistischen Perspektive schildert. Ich bekomme einen vielschichtigen Einblick in die Gefühlswelt einer nicht neurotypischen Person, was sich sowohl Lloyd-Barlows sprachlicher Gestaltung wie in ihrem Erzählstil widerspiegelt. Lloyd-Barlow ist selbst Autistin und möchte ihren Debütroman als Own-Voice Roman verstanden wissen, der Verständniss für autistische Lebensrealitäten schaffen soll.
Für mich war diese Leseerfahrung in dieser Hinsicht bereichernd und ich hatte Genuß an der starken, poetischen und sehr metapherreichen Sprache Lloyd-Barlow. Dennoch hatte „All die kleinen Vogelherzen“ besonders im Mittelteil für mich viele Längen, die der sehr detaillierten und abschweifenden Ausarbeitungen mancher Szenen geschuldet waren. Auch der Plot war in meinen Augen letztendlich zwar stimmig, aber auch sehr leise und wenig spektakulär. Der Klappentext erweckte bei mir hier falsche Erwartungen an einen Spannungsbogen und eventuelle düstere Geheimnisse, die sich dann nicht erfüllten.
Ich möchte an dieser Stelle auf die sehr lesenswerten Interviews mit der Autorin Viktoria Lloyd-Barlow und der Übersetzerin Sabine Längsfeld auf der Webseite des Jumboverlags hinweisen.
Vielen lieben Dank an den Goya Verlag und Kirchner Kommunikation für das schöne Rezensionsexemplar von „All die kleinen Vogelherzen“!
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