Heute stelle ich dir keinen zeitgenössischen Roman vor, sondern den Roman „Der verlorene Traum“, der bereits 1944 verfasst wurde und bis jetzt noch nie veröffentlich wurde.
Er stammt von der österreichischen Schriftstellerin Mela (Melanie) Hartwig, geborene Hess, später verheiratete Spira, die in den frühen 20er Jahre an den Bühnen Österreichs als Schauspielerin arbeitete und später nach ihrer Heirat mit dem jüdischen Rechtsanwalt Robert Spira mit dem Schreiben begann.
Bis 1938 veröffentlichte sie einige, zum Teil als skandalös empfundene Novellen und Erzählungen. Dann musste sie zusammen mit ihrem Mann auf Grund des Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich und der beginnenden Naziherrschaft nach England emigrieren.
In England konnte sie nicht mehr an ihre schriftstellerischen Erfolge anknüpfen und der 1943/44 entstandene Roman „Der verlorenen Traum“ wurde nicht veröffentlicht.
Für mich war der Roman also ziemlich besonders, da ich heute eigentlich hauptsächlich zeitgenössische Romane lese.
Allerdings fand ich hier eine sehr lesenswerte und auch empfehlenswerte Lektüre, die ich aber durchaus mit anderen Augen als moderne Romane las.
Wie in der Kurzbeschreibung bereits ausgeführt wird und der Titel ebenfalls andeutet, verliert sich die Hauptfigur des Romans, Barbara, in ihren Träumen und Sehnsüchten.
Auslöser für Barbaras Abdriften in eine Traumwelt ist während eines Theaterbesuches der Anblick eines jungen Mannes mit wahrhaft überwältigender Ausstrahlung und einem besonderen Gesicht:
„Es war nicht schön, aber es war mehr als schön. Es war bezaubernd.“
Im folgenden beschreibt Hartwig unglaublich detailliert und psychologisch genau, was dieser bestrickende Anblick in Barbara auslöst: Nämlich eine völlige Erschütterung ihrer selbst. Diese genaue Beobachtungsgabe und die nachvollziehbaren Beschreibungen von Barbaras Gefühlswelten bilden das Herzstück des gesamten Romans.
Eine feministische Epiphanie?
Ich kann als Leser*in mitbeobachten, wie ein zufälliger Blickwechsel im Theater Barbaras gesamtes Leben zu zerstören droht. Sie stellt nicht nur sich selbst in Frage, sondern sie bemerkt in ihrer eigentlich liebevollen und glücklichen Ehe ein ungerechtes Ungleichgewicht. Genauso hinterfragt sie auf ihrer Arbeitsstelle von plötzlicher Klarsichtigkeit ergriffen (oder umnachtet?) die Rollen- und Aufgabenverteilung.
Kurz wähne ich mich in einem feministischen Befreiungsroman, doch der weitere Verlauf der Handlung widerlegt schnell diese Lesart.
Hartwigs plastischen Schilderungen einer weiblichen Gefühlswelt können auch heute noch mit ihrer Echtheit und Genauigkeit bezaubern. Das von ihr beschriebenen Idealbild einer Ehe wohl eher nicht.
Mir ist schon oft aufgefallen, dass in älteren Romanen eine Ehebeziehung beschrieben wird, die wir heute nicht mehr als gleichberechtigt empfinden. Stattdessen erinnert sie eher an das Verhältnis zwischen einem Vater und einer Tochter.
So auch bei bei Hartwig. Barbaras Ehemann ist der moralische unerschütterliche Fels in der Brandung zu dem die verwirrte Barbara nach ihrer Läuterung zurückkehren kann. Seine Integrität und Verhalten ist über jeden Zweifel erhaben und wird nicht hinterfragt.
Mir macht das sehr deutlich, wie sehr sich weibliches Schreiben mittlerweile (teilweise) verändert hat.
veränderte Lesegewohnheiten
Und obwohl ich „Der verlorene Traum“ mit einer gewissen Distanz und mehr analysierend lese, wirkt Hartwigs Prosa subtil auf mich. Ich verspüre einen gewissen, vielleicht sogar ein bißchen unfreiwilligen Genuss angesichts des völlig ironiefreiens und romantischen Endes.
Ich würde „Der verlorene Traum“ sicher nicht als feminischen Roman bezeichnen sondern als bemerkenswertes Zeugnis von weiblichen Erleben und Schreiben aus einer anderen Zeit. Oder wie es auf dem Klappentext heißt: „diese fiebertraumartige Liebes- und Sehnsuchtsgeschischte führt zurück in eine Welt von gestern.“
Für mich war der Roman eine sehr lohnenswerte Lektüre, die sich von meinen anderen aktuellen Leseerfahrungen abhob. Ich hätte mir eventuell noch ein Nachwort oder eine Einordnung gewünscht, wie ich das schon von anderen Neuveröffentlichungen nicht zeitgenössischer Lektüre kenne. So aber blieb mir die Freiheit einer komplett eigenen Meinungsbildung.
„Flüchtiger als der Wind ist die Zeit, du kannst sie nicht aufhalten, keiner kann es.“
Vielen lieben Dank an den Literaturverlag Droschl und Kirchner Kommunikation für das gewünschte Rezensionsexemplar!
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