Ulrike Edschmid wurde 1940 geboren, ist heute also 84 Jahre alt. Über ihr bisheriges literarisches Werk weiß ich nichts. Auch sonst habe ich von guter Literatur wenig Ahnung, ich kann nur sagen, was mir gefällt und was nicht.
Aber als ich „Die letzte Patientin“ las, war ich mir sicher, das ist gute Literatur und es gefällt mir. I mean, dieser Roman hat 109 Seiten, das heißt, ich konnte ihn in einem Durchgang lesen, aber Edschmid schreibt derart konzentriert, dass ich von dieser gehaltvollen Essenz noch länger zehren kann.
Edschmid erzählt die Geschichte einer Therapeutin. Es ist eine Geschichte aus zweiter Hand, denn die Erzählerin des Romans ist nur die Freundin jener Therapeutin und kennt die Ereignisse nur aus ihren Briefen und Berichten. Trotzdem kommt es mir vor, als wäre die Erzählung der Therapeutin direkt an mich gerichtet. Ich kann ihre Stimme fast in meinem Kopf hören.
Im ersten Teil wird das abenteuerliche Leben der Therapeutin beschrieben, die die Reise- und Lebenslust um die Welt treibt, viel Liebesaufregung mit Männern erlebt, aber auch deren Gewalt. Die Entscheidung, als Therapeutin sesshaft zu werden, trifft sie erst spät in ihrem Leben.
Wo sind die Grenzen von Therapie?
Die letzte Patientin, eine junge, schweigende Frau, die nur N. heißt, erscheint das erste Mal ungefähr in der Mitte des Romans. Jahrelang wird sie die Patientin der mittlerweile an Krebs erkrankten Therapeutin sein. Und jahrelang wird die Patientin keine Sprache finden können für das Schreckliche, was ihr angetan wurde.
“Heilung beginne, sagt sie, wenn eine Sprache gefunden werde für das, was als gestaltloses Dunkel unaussprechlich und in seiner formlosen Existenz nicht zu fassen, nicht zu begreifen, nicht zu benennen und nicht zu beweisen gewesen war.”
Gerade gegen Ende des Romans wird mir deutlich klar, dass Edschmid einer völlig anderen Generation von Schriftstellerinnen angehört, als die ich sonst lese. Es gibt hier keine Schilderungen von gewaltsamen Details, keine genaue Benennung des Grauens, das von männlicher Gewalt ausgeht, das wir heute Stalking, Toxisch, Vergewaltigung, Missbrauch oder Trauma nennen.
“Ein vierter Mann, der dazukam, tat ihr Gewalt an.”
Und doch empfinde ich den Roman auf keinen Fall als veraltet. Die Stärke dieser beiden Frauen, die trotz allem ungebrochen bleiben und die sich gegenseitig Trost und Halt spenden, ist zeitlos und inspirierend.
Ich danke dem Suhrkamp Verlag für dieses besondere Rezensionsexemplar!
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