„Dinosaurierkind“ ist ein literarischer Essay der Autorin, Kritikerin, Literaturwissenschaftlerin und Moderatorin Maryam Aras. Außerdem studierte die in Köln geborene Tochter eines iranischen Exilanten Islamwissenschaften, Anglistik und Politologie.
Ihr Essay war für mich eine der herausfordernsten Lektüren der letzten Wochen, und zwar nicht literarisch, sondern inhaltlich.
Der Iran ist ein unglaublich großes Land, über viermal so groß wie Deutschland mit ungefähr vergleichbarer Einwohner*innenzahl. Und trotzdem weiß ich so gut wie nichts über das Land und seine Geschichte.
Noch weniger weiß ich über die Geschichte und Situation der iranischen Diaspora in Deutschland.
Maryam Aras zeichnet in ihrem Essay die Biografie ihres Vaters nach, der 1964 aus dem Iran auswanderte, erst im Münchner Umfeld lebte, wo er sich in den 60er und 70ern politisch mit Gleichgesinnten für den Kampf gegen die Shah-Diktatur engagierte, später dann in Köln.
„Mein Vater würde nie von Aktivismus sprechen. Oder denken. Wenn ich das Wort durch seine Augen lese, klingt es nach einem Hobby. Politisch aktiv sein, politisch denken, ein politisch denkender Mensch sein, ja. Im Grunde genommen bedeutet das für ihn Menschsein. Aber diese Sache, der er sein Leben widmet, ist die politische Arbeit.“
Es sind nicht nur die Exilerfahrungen ihres Vaters, von denen Aras berichtet, sondern sie erzählt mit Hilfe seiner Geschichte und der seiner Familie, wie beispielsweise die seiner Mutter Azzeh Maman, aus der Geschichte des Irans, bist weit zurück ins 20. Jahrhundert.
Aras selbst wird 1982 in Deutschland geboren und obwohl sich ihre Eltern trennen, und sie nur zeitweise bei ihrem Vater lebt, ist sie eine „Vatertochter“. In ihrem Essay kommt er selbst zu Wort, er kommentiert, berichtigt und ergänzt kursiv aus dem Off.
Immer wieder lese ich aus ihrem Text heraus, wie zärtlich sie ihrem Vater verbunden ist, wie sehr sie ihn und seine Arbeit bewundert, obwohl sie sich auch ihrer Unterschiedlichkeit sehr bewusst ist.
“Wenn er gekonnt hätte, mein Vater hätte uns auch gestillt, sagt Rossellini im Film. Dieser Satz hat mich nie wieder verlassen. Wenn er gekonnt hätte, hätte er mich gestillt. Nichts, was ich je über Väterbilder gesehen oder gelesen habe, fängt das Nähren, Umsorgen und die Zärtlichkeit, die auch zum Vaterbild meiner Kindheit gehören, so gut ein.”
Beim Lesen des Essay läuft bei mir oft nebenbei Wikipedia mit, so unzureichend sind meine Kenntnisse über die geschichtlichen Zusammenhänge, über die Aras schreibt.
„Dinosaurierkind“ – ein anstrengende und rechercheintensive Lektüre
Und gegen Ende des Textes wandelt sich meine Unwissenheit in eine gewisse Beschämung.
Aras beschreibt, wie sie ihrem Vater im Dokumentarfilm „Der Polizeistaatsbesuch“, das zum 50. Jubiläum des 2.Juni 1967 in einem Kölner Kino gezeigt wird, in einem nur Sekunden dauernden Ausschnitt wiedererkennt.
„Aber ihn leibhaftig in diesem Film zu sehen, fühlt sich irreal an. Gleichzeitig wie eine Katharsis, die all die Erzählstränge seines Lebens zusammenführt und materialisiert, hier vor meinen Augen in diesem Kino. Ein Beweis in dieser Welt, dass seine Geschichte wahr ist.“
Am 2. Juni 1967 wurde bei den Demonstrationen während des Besuch des Shahs in Deutschland der Student Benno Ohnesorg erschossen. Ein Datum, das mir gut bekannt ist, gilt es doch als als Einschnitt der westdeutschen Nachkriegsgeschichte mit weitreichenden gesellschaftspolitischen Folgen und als Moment der Radikaliersung der Studentenbewegung.
Und während mir die Hintergründe rund um die Demonstrationen wegen des Shah-Besuchs unbekannt waren, weiß ich umso mehr über die Entwicklungen, die später so schrecklich im Deutschen Herbst enden würden.
„Geschichte ist ein hierarchisches Geflecht aus Vergessen und Erinnern.“
Warum wird also an die Geschichte der iranischen Opposition 1968 nicht erinnert? Warum kenne auch ich nur die Geschichten von weißen Protagonist:innen jener Zeit?
„Doch 1968 ist kein Schreckensereignis, dem Denkmäler gesetzt werden, es ist ein Mythos. Ein Gründungsnarrativ. Es ist das Initiationsmoment der weißen deutschen Linken. […] Moralisch überlegen; 68, ein deutsches Unschuldsmoment.“
Eine Antwort auf diese Fragen gibt Aras selbst im letzten Kapitel, das sie ohne Rücksprache mit ihrem Vater ergänzt hat.
Ich, du, wie alle, können die Antwort überall sehen und hören. Erst kürzlich in den verbalen Entgleisungen unseres Bundeskanzlers Friedrich Merz über „Probleme im Stadtbild“.
Das ist nicht harmlos, sondern es zeigt ein unverhohlen hegemoniales, weißes Weltbild.
Das ist Rassismus.
„Dinosaurierkind“ war für mich sehr anstrengend, ja, das schon, aber hat mir geholfen, meine eigene begrenzte Perspektive ein bißchen zu verlassen. Gerade in Hinblick auf eine Zeit in der Deutschen Geschichte, die ich bis jetzt immer nur aus einem anderen Blickwinkel betrachtet hatte.
Vielen lieben Dank an die Ullstein Buch Verlage für das Rezensionsexemplar. Danke und noch viel Erfolg an Maryam Aras für ihr Buch und ihre Arbeit!
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