Als ich mit dem Roman „Leichter Schwindel“ beginne, starte ich mit meiner üblichen Lesegeschwindigkeit, komme aber sofort ins Stolpern. Es hackt.
Hier stimmt irgendwas nicht!
Nach 2-3 Seiten merke ich, was los ist: ich lese einen einzigen Bandwurmsatz, untergliedert nur mit Kommas.
Auch im weiteren Verlauf besteht der Roman aus seitenlangen Sätzen, die sich in verschachtelten Relativsätzen verzweigen. Es dauert eine Weile, bis ich meine Lesegeschwindigkeit entsprechend angepasst habe, um den Inhalt zu verstehen.
Dabei unterstreicht und verstärkt diese von Kanai gewählte Erzählform in perfekter Weise ihr Thema: der sich in unendlicher Gleichförmigkeit und Belanglosigkeit erstreckende Alltag einer Hausfrau im Tokyo der 90er. Ihre Protagonistin Natsumi lebt mit ihrem gutsituierten Mann und ihren beiden Kindern in einer Wohnung in der Großstadt und ich begleite sie eine Weile durch ihren Alltag.
Natsumis Leben und Gedanken sind geprägt von profanen Erlediungen und der Organisation des Alltags und gleichzeitig vom Fehlen jeglicher Träumen, Ambitionen oder Wünschen. Stattdessen hat sie sich mit vollkommenen Pragmatismus in ihrer Ehe und in ihrer Lebenssituation arrangiert.
„natürlich hatte es zwischen ihnen nichts Romantisches wie einen Triumph der Liebe oder rauschhafte Sinnlichkeit gegeben, und natürlich hatten sie vor der Ehe miteinander geschlafen, was auch nicht überwältigend gewesen war,“
Nur manchmal, etwa beim Beobachten eines hypnotisierenden Wasserstrahls oder nachts in der Stille der Wohnung überkommt Natsumi ein leichter Schwindel….
Leichter Schwindel als Zeichen des Unwohlseins?
Mieko Kanai belässt es mit voller Absicht bei dieser leichten Ahnung, bei diesem Anflug von Unwohlsein. Es ist nur der Hauch einer Idee von einem emanzipiertem, komplett anderen Leben, den sie sehr unterschwellig in Natsumis Gedanken aufklimmen lässt.
Kanai sagt selbst in ihrem Nachwort:
„Eigentlich ist es sinnlos, darüber zu schreiben, warum eine Hausfrau leichtem oder schwerem Wahnsinn verfällt, denn es gibt viele Autorinnen, die hervorragend dazu in der Lage sind, also schrieb ich über den leichten Schwindel einiger mir gut bekannter Frauen, die in dieser gesichtslosen Stadt leben.“
Mich überrascht, dass der 1997 erstmals in Japan erschienen Roman, der als „Urtext neuen weiblichen Schreibens in Japan“ bezeichnet wurde, so viele Parallelen zu unserem kapitalistisch gesättigtem Leben 2025 aufweist. Ich kann mir Natsumi genauso gut in den Hochhausschluchten und Vororten von Frankfurt vorstellen.
„[…] kurz gesagt, ihr Komplex, nur Hausfrau zu sein, war die Ursache für ihre Wut und steigerte sich zu regelrechtem Selbsthass.“
Ich lese sehr gerne zeitgenössische Literatur aus Japan und „Leichter Schwindel“ war für mich eine sehr interessante und faszinierende Lektüre, sowohl inhaltlich als auch stilistisch.
Wenn du auch Lust auf besondere, feministische Literatur aus Japan hast, ist der Roman definitiv ein heißer Tipp für dich. Wenn du allerdings nach einem aufregenden Plot, einem flüssig und eingängig zu lesenden Roman suchst oder gar nach einem feministischen Wutschrei, ist „Leichter Schwindel“ kein Buch für dich.
„Leichter Schwindel“ ist Kanais erster ins Deutsche übersetzte Roman. Übersetzt wurde der Roman aus dem Japanischen wurde von der erfahrenen Ursula Gräfe.
Vielen lieben Dank an den Suhrkamp Verlag für das interessante und gewünschte Rezensionsexemplar!
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