REICHSKANZLERPLATZ von Nora Bossong

Geschrieben von:

Reichskanzlerplatz Nora Bossong

Nora Bossong stand bereits 2019 mit ihrem Roman „Schutzzone“ auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und das könnte ihr mit „Reichskanzlerplatz“ durchaus wieder passieren.

Von den dafür gerne gesehen Inkredienzen sind auf jeden Fall einige vorhanden. Er beschäftigt sich mit deutscher Geschichte, beinhaltet Coming-of-Age Elemente, er hat das nötige literarische Niveau und er ist bei einem renommierten und namhaften Verlag erschienen. 

Mir persönlich hat „Reichskanzlerplatz“ auch ziemlich gut gefallen, wenn ich den Roman auch nicht zu meinen Highlights 2024 zählen würde.

Mich hat sehr interessiert, wie Bossong das „intensive Portärt der Frau, die Magda Goebbles wurde, und ihres jungen Liebhabers Hans“ umsetzt. Über Magda Goebbles hatte ich mir natürlich schon mein eigenes Bild gemacht und das deckt sich nicht unbedingt mit Bossongs Porträt.

Ihre Magda ist menschlicher, verletzlicher und es wirkt, als hätte es nur ein wenig anderer Umstände bedurft und ihr Weg wäre ein anderer gewesen.

Aber ist das wirklich so? Wie determiniert waren und sind wir in Hinblick auf unsere individuelle und globale Geschichte?

Diese Frage stellt Bossong nicht nur mit der Figur der Magda, die überraschend wenig Screentime bekommen hat, sondern auch mit ihrem Ich-Erzähler Hans.

Hans weiß schon als Jugendlicher, dass er sich zu Männer und nicht zu Frauen hingezogen fühlt. Er bewundert heimlich Hellmut Quandt, seinen Schulfreund, und über ihn macht die Bekanntschaft mit dessen Stiefmutter Magda Quandt (spätere Goebbels). Die Frau des wesentlich älteren Industriellen fasziniert ihn und er wird später eine Affäre mit ihr beginnen, genauso wie vor ihm Hellmut (ja richtig gelesen, die Stiefmutter mit dem Sohn ihres Mannes).

Erzählstil schafft emotionale Distanz

Mich erinnert Bossongs Stil an andere, ältere literarische Werke, die ich gelesen habe auf Grund ihrer Art, gewisse Handlungen nicht auszuerzählen, sondern nur in der Rückblende anzudeuten und es den Leser*innen selbst zu überlassen, die Punkte zu verknüpfen. Eine sehr erwachsene Art des Erzählens.

Genauso hält sie es mit der Innenansicht ihrer Figuren. Hans bleibt trotz seiner Ich-Perspektive auf Distanz, seine Gefühle sind unterdrückt und reduziert. Er lebt als Heranwachsender und später als Erwachsener im erstarkenden dritten Reich, wo die moralischen Kompasse oft keinen Nordpol mehr finden. Hans spürt sehr wohl, dass viele Entwicklungen im Land, aber auch auf persönlicher Ebene beispielsweise bei Magda fehlgeleitet sind, aber als queere Person weiß er auch um seine eigene Verletzlichkeit.

Die Frage, wieviel Widerstand jedem einzelnen abverlangt werden kann, ist heute leider wieder genauso aktuell wie damals.

deutsche Geschichte oder Gegenwart?

“Ich verstehe euch nicht. Die einen zögern, und die anderen reden sich heraus, und die Dritten können Gewalt gegen die Mörder mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren.

Dabei gibt es überhaupt nichts anderes mehr als Gewalt, aber alle hadern und sind so gute Christen, während sie dabei zusehen, wie Hunderttausende Zivilisten einfach vernichtet werden.”

Ein Roman also, der sowohl als Aufarbeitung als auch als Mahnung gelesen werden kann, in dem sich viele Textstellen als Zitate anbieten. Warum also für mich kein Highlight? 

Auch wenn der Schluss mich bewegt hat, fand ich im Mittelteil zuviele mäandernde Passagen, die mich nicht so mitnehmen konnten. Ich wäre Hans gerne emotional näher gekommen und auch die Figur Magdas konnte ich leider nicht recht greifen.

Empfehlenswert ja, aber „Reichskanzlerplatz“ blieb hinter meinen Erwartungen zurück, obwohl ich dennoch die Nominierung zum Buchpreis wittere und eine sehr positive Medienrezeption erwarte.

Vielen lieben Dank an den Suhrkamp Verlag, der mir die Lektüre und diese Rezension mit einem Rezensionsexemplar ermöglichte! Danke und viel Erfolg auch an Nora Bossong für den Roman!

Reichskanzlerplatz Nora Bossong Klappentext

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert