„Dieser Roman scheint mit seinem langsamen und ruhigen Erzähltempo wie aus der Zeit gefallen und legt sich wie Balsam auf meine überdrehten und angespannten Nerven. Nach der aufreibenden und anstrengenden Lektüre der letzten Bücher möchte ich genau das.
Dabei ist der Roman, der lose auf wahren Begebenheiten basiert, nie trivial oder oberflächlich…“
Das schrieb ich in meiner Rezension zu Chambers Debütroman „Kleine Freuden“ und es passt zu hundert Prozent auch auf ihren neuen Roman „Scheue Wesen“. Es ist genau das, was mir an Chambers Romanen so gut gefällt.
In „Scheue Wesen“, das in der Haupthandlung 1964 angesetzt ist und in Rückblicken bis vor den zweiten Weltkrieg zurückgeht, gibt es auch wieder mehrere Geheimnisse. Sie werden in Verbindung mit der eigenen Geschichte der Protagonistin Helen Hansford ganz langsam aufgedröselt.
Helen ist Mitte dreißig, noch unverheiratet und als Kunsttherapeutin berufstätig, was in den 60er schon ausreicht, um als unkonventionelle Frau zu gelten. Allerdings macht Chambers nicht den Fehler, in ihre historische Figur einfach ein modernes Mindset hineinzuprojizieren. Helen ist Kind ihrer Zeit. Als sie eine Affäre mit einem verheirateten Chefarzt, ihrem Vorgesetzten, beginnt, sind ihre Gedankengänge keinesfalls feministisch geprägt.
In die psychatrische Klinik, in der die beiden arbeiten, wird der verwirrte, stumme William Tapping eingeliefert. Er wurde scheinbar jahrzehntelang im Haus seiner Tanten versteckt gehalten.
Nach dem Tod der letzten Tante hat er keine Angehörigen mehr, die über die Gründe von Williams schlechte Verfassung und seine Geschichte Auskunft geben könnten.
Wer ist der rätselhafte William?
Helen begibt sich auf Spurensuche in die Vergangenheit des Mannes, der über ein außergewöhnliches und naturalistisches Zeichentalent verfügt…
Chambers nimmt sich viel Zeit für ihre die Entwicklung ihrer Figuren. Sie erschafft ein gut recherchiertes und authentisches Setting. Oberflächlich betrachtet mögen ihre Romane den Anschein erwecken, es handle sich um leichtere Unterhaltungslektüre. Das mag vielleicht auf den Unterhaltungscharakter zutreffen, denn gerade gegen Schluss finde ich die Dramatisierung der Handlung eigentlich unnötig. Dennoch sollte der Gehalt von Chambers Romanen nicht unterschätzt werden. Für mich findet sie eine gute Balance zwischen herzerwärmenden, menschlichen Geschichten, die nicht zynisch sind und einem gewissen Realismus, der die Ungerechtigkeit und Tragik im Leben nicht verschweigt.
Mir gefiel „Scheue Wesen“ von Clare Chambers wieder richtig gut und ich habe die kleine buchige Entschleunigung sehr genossen.
Vielen lieben Dank an den Eisele Verlag für die wunderschöne Bloggerbox! Aber hauptsächlich natürlich für das Rezensionsexemplar mit dem wunderschönen Cover!
Aus dem Englischen von Wibke Kuhn
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