Schwindende Welt von Sayaka Murata

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Schwindende Welt Sayaka Murata Rezension

Aber beim Lesen habe ich schnell bemerkt, dass das Erscheinungsjahr eigentlich egal ist, denn „Schwindende Welt“ ist ein typischer Murata und genauso zeitlos aktuell, wie die beiden anderen Romane, die ich kenne.

Und im Gegensatz zu „Die Ladenhüterin“ kratzt Murata in diesem „neuen“ Roman wieder hart an der Schmerzgrenze. Wenn du schon Texte von ihr gelesen hast, weißt du vielleicht, was ich meine…

Murata überschreitet einfach literarisch moralische und ethische Grenzen und macht sie so erst sichtbar. Ihre Geschichten sind teilweise grotesk und surreal abgefahren. Dabei aber in einer heiteren, naiven Art erzählt, die selbst für asiatische Literatur ungewöhnlich ist.

„Schwangerschaft und Geburt erfolgen, losgelöst von den Bedingungen der romantischen Liebe, mittels wissenschaftlicher Methoden.“

Muratas Ich-Erzählerin ist entsetzt, als sie herausfindet, dass sie selbst das Ergebnis eines primitiven Aktes ihrer Mutter ist und widernatürlich gezeugt wurde. 

Als Amane heranwächst entdeckt sie allerdings ihre Lust am der körperlichen Liebesakt. Dabei fällt es ihr schwer, zwischen Masturbation zu einer Fantasiefigur und dem realen Akt mit einem Mann zu unterscheiden.

Schwindenden Welt oder Schwindender Sex?

Ihre Sexpartner sind durch den Akt, den sie nur Amane zuliebe vollzogen haben, allerdings meistens verstört. 

Murata dekliniert hier durch, wie willkürlich und veränderlich das ist, was in unserer Gesellschaft als normal angesehen wird, v.a. in sexueller Hinsicht.

„Egal wo ich bin, macht mich der Gedanke, normal zu sein, völlig verrückt. Normalität ist der schrecklichste Wahnsinn, den es gibt. Meinst du nicht auch?«“

Ich würde sagen, das ist eines der wiederkehrenden Hauptthemen in Muratas Roman. Amane wechselt dann im Laufe des Romans mit ihrem Mann in eine noch weiter entwickelte Gesellschaft namens “Experimenta”. Sie wird dort mit ihren verdrängten Kindheitsprägungen durch ihre Mutter konfrontiert.

Wieder muss Amane sich an eine neue Definition von “normalen” gesellschaftlichen Zusammenleben anpassen.

Der ganze Roman ist stark durchdrungen vom Thema Sexualität und dem Verschwinden von sexueller Intimität aus dem Zusammenleben.

Murata greift hier das vor allem in Japan seit den 2010er Jahren in den Medien diskutierte „Zölibatssyndrom“ (Sekkusu Shinai Shôkôgun セックスしない症候群) auf. Fast 50 Prozent der Frauen zwischen 16 und 24 Jahren hätten laut offizieller Erhebung kein Interesse an intimen Beziehungen und würden sexuelle Kontakte sogar ablehnen (Quelle: Wikipedia)

In “Schwindende Welt” gilt es als Weiterentwicklung, romantische Liebe mit virtuellen Figuren zu finden. Die Kleinfamilie ist ohne Sex ebenfalls dabei sich auszulösen. Die Gesellschaft in Muratas Roman entwickelt sich immer mehr zu einem Zusammenschluss aus genderneutralen Individuen, die allerdings keinerlei Individualität mehr besitzen.

Muratas Stil würde ich als eher schlicht und naiv distanziert bezeichnen, was aber die Trennung der Menschen von ihren Gefühlen unterstreicht. Auch Amane und ihre Freund*innen sind durch ihre emotionale Abspaltung gekennzeichnet. 

Und Murata treibt die verdrehte Logik und die Handlung, die dadurch entsteht, bewusst auf die Spitze.

Das ist schon manchmal krass grenzwertig, abgefahren und zeigt wie starr auch meine eigenen Vorstellungen von Familie und Sexualität sind. 

Für Murata-Fans ist der Roman definitiv ein Muss, für Einsteiger*innen empfehle ich lieber “Die Ladenhüterin” für den sanfteren Einstieg.

  • Sayata Murata
  • Schwindende Welt Sayaka Murata Klappentext

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