Ich bin jetzt nicht wirklich ein großer Fan von Elena Ferrante, dafür kenne ich einfach viel zu wenig von ihr. Aber mir hatte „Frau im Dunkeln“ wirklich ausgesprochen gut gefallen und ich hatte schon länger den Wunsch, noch mehr dieser unterschwelligen und subtilen Schriftstellerin zu lesen.
Thematisch sprach mich Ferrantes zweiter Roman „Tage des Verlassenwerdens“ (die Originalausgabe erschien bereits 2002 unter dem Titel I giorni dell’abbandono) besonders an.
Die Ehefrau, die jahrelang das Leben und das Wesen ihres Mannes in den Mittelpunkt gestellt hat und dann mit den gemeinsamen Kindern einfach verlassen wird, ist ein zeitloses Thema, das mich schon immer fasziniert hat und mich wohl auch noch lange beschäftigen wird.
Besagte Ehefrau heißt in „Tage des Verlassenwerdens“ Olga und lebt mit ihrem beiden kleinen Kindern und einem Hund in einer schönen Wohnung in Turin, als ihr Mann Mario ihr verkündet, dass er sie verlassen wird und auszieht.
Nur langsam realisiert Olga ihre neue Situation als verlassene Frau und schnell mischt sich eine gewaltige Wut in ihre Gefühle, als sie feststellt, dass Mario jetzt mit einer 20 Jahre jüngeren Frau zusammenlebt. Er hat weder an ihr noch an den gemeinsamen Kindern noch irgendein Interesse.
Olga mutiert zum Paradebeispiel einer unhinged woman, sie lässt ihre ungezügelte Wut an Freunden, Nachbarn und sogar am Hund und a den Kindern aus. Der Alltag und die Realität scheinen ihr zunehmend zu entgleiten, ein neues vulgäres Vokabular und Verhalten macht sich breit.
Ferrante nutzt wieder gekonnt die Stilmittel, die ich schon aus „Frau im Dunkeln“ kenne und sehr mochte. Symbolisch für den Kontrollverlust der Protagonstin verbreiten sich überall dunkle Ameisen in der Wohnung. Türen lassen sich aus ungeklärter Ursache nicht mehr öffnen. Olgas Angst, zur Schattenfigur der verlassene Frau ihrer Kindheit zu werden manifestiert sich in Visionen der „poverella“.
Worst case: verlassenwerden?
In einer Gesellschaft, die den Wert einer Frau mit den Augen eines Mannes bemißt, bedeutet das Verlassenwerden die maximale Wertlosigkeit und Nichtigkeit und verurteilt, so glaubt Olgas, zu einem leidvollen Leben voller Ausgrenzung, Lieblosigkeit und Einsamkeit.
Ferrante lässt ihr Psychogramm in einem Höhepunkt kulminieren, der gleichzeitig für Olga zur Einleitung ihrer Katharsis wird. Dabei sind die Schilderungen von Olgas Gedanken und innerem Erleben sehr genau beobachten und widergegeben.
„Tage des Verlassenwerdens“ war für mich auf dem gleichen Niveau und genauso unterhaltsam wie „Frau im Dunkeln“ und macht mir Lust auf weitere Romane der italienischen Autorin.
Wenn du Ferrante noch gar nicht kennst, eignen sich beide Romane perfekt zum Entdecken, denn sie sind in sich abgeschlossen, psychologisch aufregend und ein klein wenig düster und morbide.
Das Hardcover erschien 2019 beim Suhrkamp Verlag, das Hörbuch bei Der Hörverlag von Penguin Bücher
Gesprochen von Eva Mattes
Aus dem Italienischen von Anja Nattefort
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