Ich hatte erst gezögert, ob ich dieses Buch wirklich lesen möchte, denn entgegen meiner ursprünglichen Vermutung handelt es sich bei „Das hier ist nicht Miami“ nicht um einen Roman. Es sind vielmehr sogenannte „Crónicas“, eine in Lateinamerika einzigartige Mischform aus subjektiver Reportage, Investigativjournalismus und Fiktion.
Fernanda Melchor schreibt selbst in den Vorbemerkungen über ihre Texte, die zwischen 2002 und 2011 entstanden, und erstmals 2013 im spanischen Original erschienen sind:
“Es sind keine journalistischen Texte, denn sie enthalten keine Daten, harten Fakten und auch keine Autokennzeichen (zum Teil, um meine Informanten zu schützen), aber es sind ebenso wenig realistische Fiktionen.”
Melchor, die zu den wichtigsten Autorinnen Lateinamerikas zählt, schreibt in ihrem Erzähldebüt vom Leben in der Stadt Veracruz, der größten Hafenstadt an der mexikanischen Golfküste.
Bei mir entsteht so ein Bild von einer harten Stadt, die von Gewalt, Kriminalität und Drogenhandel geprägt ist.
Dabei verwendet Melchor komplett unterschiedliche Erzählperspektiven sowie unterschiedliche Erzählformen. Manche Ereignisse sind aus der Ich-Form geschrieben, andere in indirekter Rede oder sind Erzählungen aus zweiter Hand.
Den großen Unterschied ihrer Crónicas zu beispielsweise Kurzgeschichten liegt im Realitätsgehalt ihrer Geschichten. So steuern viele Texte nicht auf eine spannende Pointe hin oder auf eine moralische Botschaft, sondern Melchor möchte „Geschichten auf die ehrlichste Weise erzählen“, die sie für möglich hält, mit Hilfe der Literatur.
Das hier ist nicht Miami – sondern Veracruz, die Stadt der Geister
Besonder gut gefallen hat mir dabei der Text „Königin, Sklavin oder Ehefrau“. Darin erzählt Melchor die Geschichte von Evangelina Tejera, einer ehemaligen Karnevalskönigin, die ihre beiden kleinen Söhne in ihrer Wohnung in einem herunter gekommenen Mietshaus im Zentrum von Veracruz getötet, zerstückelt und in Blumentöpfen versteckt hat.
Die Geister der Kinder sollen bis heute noch manchmal im Treppenhaus beim Spielen beobachtet werden, wie Hausbewohner*innen berichten.
Obwohl dieser Bericht faktisch an True Crime erinnert, ist das, genauso wenig wie bei der Schilderung anderer gewalttätiger Verbrechen, nicht die explizite Intention der Autorin, sondern es ist vielmehr das Porträt eines Hauses, einer Frau und von Ereignissen „das sich überall hätte zutragen können, die aber aus wer weiß welchem unvermeidlichen Grund nur an diesem Ort geschehen konnten.“
Fernanda Melchor hat mich mit ihren „Crónicas“ so überzeugt, dass ich gerne auch einen ihrer preisgekrönten Romane lesen möchte.
Dankeschön an den unabhängigen Wagenbach Verlag, bei dem ich mir das Buch auf der Frankfurter Buchmesse mitnehmen durfte (danke an Merle für diese Empfehlung). Danke und viel Erfolg an Fernanda Melchor für die deutsche Ausgabe ihres Buches!
Aus dem mexikanischen Spanisch von der Schriftstellerin und Übersetzerin Angelica Ammar


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