Gefällt es dir, wenn ein Roman dich auf einen ganz anderen Weg führt, als du erwartet hast? Ich mag das eigentlich sehr, und bei „Ein Einzelfall“ führt mich die Autorin Emily Maguire auf sehr unerwartete Pfade.
Auf Grund des Klappentexts und der Kurzbeschreibung, eine 25-jährige wird in einer australischen Kleinstadt brutal ermordet, ging ich von einem Kriminalplot aus. Es wird zwar bereits angedeutet, dass es gesellschaftskritische Anklänge geben wird, doch „Ein Einzelfall“ ist mehr.
Es ist eine zutiefst feministische Beschreibung, welchen Übergriffen, Gewalt und welcher sexistischen Bewertung Frauen* in einer männerdominierten Gesellschaft ausgeliefert sind.
Im Zentrum von Maguires Roman steht ihre Ich-Erzählerin Chris, die ältere Schwester der ermordeten Bella.
Chris ist eine Hauptfigur ganz nach meinem Geschmack:
„Sie kennen die Namen der Männer nicht, die Sie mit nach Hause nehmen?“ „Genau, das ist richtig. Ich bin eine große, alte Schlampe. Ist ja kein Verbrechen, oder?“
Sie versucht den furchtbaren Tod ihrer Schwester zu verarbeiten und muss gleichzeitig mit dem Medieninteresse und den Reaktionen in ihrem direkten Umfeld fertig werden.
Mit ihrem Ex-Mann verbindet sie immer noch eine von Abhängigkeit und Sex geprägte Beziehung, was sich nicht stabilisierend auf ihre mentale Gesundheit auswirkt.
Mit der jungen Reporterin May erzählt mir Maguire eine weitere Geschichte von einer Frau, die sich in einem von Männern dominierten Umfeld behaupten muss und dafür zu Mitteln greift, die weder aus ethischer Sicht noch aus feministischer Sicht vertretbar sind.
Auf genau diesem ambivalenten Feld laviert der als Spannungsroman angelegte Text. Und genau das ist es, was mir an ihm so gut gefällt.
Weniger gut gefällt mir aber in der Tat die unerwartete Richtung, die die Handlung vor allem im letzten Drittel nimmt. Hier wäre ich vermutlich lieber auf dem eingeschlagenen Pfad geblieben.
Dennoch: die australische Autorin Maguire kann bei mir mit herrlich direkter und derber Sprache und ihren gegen den Strich gebürsteten Frauenfiguren punkten. Auch die Gesellschaftskritik ist drastisch, intensiv und leider wahrhaftig.
Ich habe „Ein Einzelfall“ gerne gelesen, zum Highlight fehlte aber noch ein bißchen Stringenz in der Handlung.
Erschienen 2023 beim Septime Verlag, in Australien bereits 2017 erschienen und preisgekrönt.
Aus dem australischen Englisch von Roland Freisitzer.
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