Nach über 500 Seiten Marathonlauf noch so ein Schluss Sprint zum fulminanten Showdown?
Alta, ich bin jetzt überfordert!
Überfordert bin ich auch mit der Genre-Einordnung von „Geschichten der Nacht“. War das ein Krimi? Ein Thriller mit Geiselnahme, wie der Klappentext suggeriert? Ein Psychodrama?
Das passt alles nicht. Mauvigniers Roman sprengt mit seinem literarischen Anspruch jegliche Genre Grenzen weit auf.
Mit höchstem psychologischen Gespür entwirft er das Psychogramm von vier Menschen, die in einem kleinen, abgelegenen Weiler in Frankreichs Provinz leben. Mauvigier nimmt sich sehr viel Zeit, mich in das Innenleben von Patrice, Marion und Ida eintauchen zu lassen. Eine Kleinfamilie, bestehend aus Vater, Mutter, Kind. Nebenan wohnt noch die ältere Nachbarin Christine, eine langjährige Freundin der Familie.
Es regiert der profane Alltag, der aus viel Arbeit, wenig Zeit für einander und einer gewissen Sprachlosigkeit besteht.
Doch an diesem einen Tag, dem Tag dieser Geschichte, sind alle bemüht ihn zu etwas ganz besonderes zu machen, denn es ist der Tag von Marions 40. Geburtstag.
Alle, allen voran die kleine Ida, tun ihr Bestes um Marion mit einem liebevoll vorbereiteten Abendessen eine Freude zu machen.
Es kommt alles ganz anders. Drei Männer, offenbar Brüder, dringen in den Weiler ein und bedrohen die Familie und Christine.
Es wird schnell klar, dass sie wegen Marion gekommen sind…
Mir gefielen die tiefgründigen Charakterzeichnungen Mauvigniers ziemlich gut. Besonders die Figur des Patrice gibt interessante Einblicke in eine gequälte Seele. Hinter seinem tumbem, groben Körper steckt abgrundtiefer, bodenloser Selbsthass, der manchmal in Frauenhass umschlägt.
Obwohl er seine Frau Marion liebt, und er ihr jeden Wunsch erfüllen will, kann er sich nicht überwinden ihr die einfachsten Handgriffe im Haushalt abzunehmen. Eine Selbsterkenntnis, die ihn selbst und mich, die Lesende, schmerzt.
Und Marion, eine Städterin, eine toughe, attraktive Frau und liebevolle Mutter, ist selbstbewusst und lässt sich beruflich nichts gefallen.
Was findet sie an dem provinziellen Patrice und an dem langweiligen und spießigen Leben im Weiler?
„Geschichten der Nacht“ unterhält literarisch und psychologisch auf höchstem Niveau
Auch literarisch unterhält der Roman auf höchstem Niveau. Mauvignier ist ein ausgezeichneter und preisgekrönter Schriftsteller, der sein Handwerk beherrscht.
Es gibt einige berührende Moment, die meistens Liebe beinhalten, Momente des Erkennens und der Reue.
„Ihre Hand auf der seinen ist ein so großer Trost, dass er wünschte, das ganze Universum bestünde nur noch aus diesem Bild und diesem Gefühl.“
Trotz dieser durchaus gefälligen Aspekte bleibt meine Lesefreude verhalten.
Denn der Schreibstil selbst ist nicht eingängig. Das liegt am Satzbau, der mich oft dazu zwingt sehr genau zu lesen. Er verweigert mir ein richtiges Eintauchen in den Text und fordert mir sehr viel Aufmerksamkeit ab. Zuviel, um über 500 Seiten irgendeine Spannung bei mir aufrecht erhalten zu können.
Zudem fühle ich mich beim Lesen unangenehm woke, denn manche Sachen stören mich. Dass die Ü50 Freundinnen von Marion durchgängig als Mädchen bezeichnet werden, zum Beispiel. Oder die Beschreibungen des „schwachsinnigen“ Bruders, der schnell durchdreht und dann gewaltätig wird und danach wie ein Kleinkind weint. Das kenne ich aus vielen Krimis, die ich vor 20 Jahren gelesen habe und empfinde es als stereotyp und irgendwie nicht mehr als zeitgemäß. Genauso übrigens wie der Eklat um Marions Vergangenheit, die ich hier nicht enthüllen kann, ohne zu spoilern.
„Geschichten der Nacht“ war für mich ein sehr anstrengendes, mehrtägiges, aber auch ungewöhnliches Leseerlebnis, dass ich wirklich nur sehr bedingt weiterempfehlen kann.
Vielen lieben Dank an den Matthes und Seitz Berlin Verlag für dieses Erlebnis in Form eines Rezensionsexemplars!
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer
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