Rezension
Nach dem Beenden von „In der Gnade“ blättere ich zurück und lese einige Abschnitte noch mal. Das mache ich sonst nicht.
Aber ich bin auf der Suche nach Erlösung.
Ich suche beim Zurück blättern nach versteckten Antworten, nach überlesenen und versöhnlichen Sätzen.
Aber Williams schenkt mir nichts. Ich finde keine nachträgliche Erlösung. Ich bleibe mit ihrem Roman aufgewühlt zurück.
Joy Williams gilt in den USA als eine der bedeutendsten und aufregendsten Schriftsteller*innen, ist aber in Deutschland fast unbekannt. Der dtv Verlag veröffentlichte 2023 erstmals ihre „Stories“ auf deutsch. 2024 legt der Verlag mit dem Debütroman „In der Gnade“ von 1973 der Autorin nach.
Der dreiteilige Roman in eine Reise ins düstere Herz des biblischen Amerikas und ins Herz eines verlorenen Menschen.
Es ist für mich keine leichte, sich selbst erschließende Lektüre, die ich abends nach der Arbeit im Bett zur Entspannung lesen kann.
„In der Gnade“ fordert meine Aufmerksamkeit, mein Mitdenken und mein Mitfühlen.
Im Mittelpunkt stellt Williams ihre Ich-Erzählerin, die junge Kate. Auf der Haupterzählebene ist sie schwanger von ihrem festen Freund Grady und besucht ein College. In losen Gedankensprüngen lese ich von ihrer Vergangenheit und die ist alles andere als glücklich und unbelastet.
Sie wächst auf einer Insel auf, und ihre Schwester und ihre Mutter sterben als sie noch ein Kind ist unter furchtbare Umständen. Kate bleibt alleine mit ihrem Predigervater zurück.
“Jetzt ist der Vater allein mit seiner kleinen Kate. So ein unangenehmes Kind. Sie hat etwas Krankes an sich, etwas Dunkles, der Hauch des geweihten Verbrechens umgibt sie – die Aura einer heiligen Hure. Aber sie ist doch nur ein Kind!”
Die Beziehung zum Vater fühlt sich in den kurzen Beschreibungen Kates sehr ungesund an. Spüre ich missbräuchliche, inzestuöse Vibes? Aber so was von!
Das kleine Mädchen wird älter und löst sich aus dieser Verbindung, ist aber haltlos im Leben, hat wenig moralische Orientierung.
Lost in Space?
Bis sie in der Liebe zu Grady und der Schwangerschaft ein kleines zu Hause findet.
Aber die Vergangenheit scheint die Gegenwart zu vergiften…
Es ist dem absolut ungewöhnlichen Erzählweise und Schreibstil Williams zu verdanken, dass die Atmosphäre des Romans so greifbar wird. Mit großen Leerstellen und nur sehr subtilen Andeutungen verdeutlicht sie den Verdrängungsmechanismus in Kates Erinnerungen. Ihre nicht-chronologischen Erinnerungsfetzten und flashbackartigen Assozitionen spiegeln die innere Zerrüttung wieder.
Das macht den Roman herausfordernd und einzigartig.
Und natürlich gibt „In der Gnade“ einen schlaglichtartigen Einblick in das Lebensgefühl einer ganzen Generation im Umbruch, in ein Aufbäumen gegen den einengenden Bibelglauben von Pharisäern und in die düstere und auswegslose Leere, die danach noch übrig bleibt.
Ich finde schon dass, „In der Gnade“ nihilistische und dunkle Literatur ist, der eine große literarische Kraft innewohnt. Mich hat der Roman gefesselt und gefordert und das hat mir gefallen!
Vielen lieben Dank an den dtv Verlag für die Veröffentlichung und das schöne Rezensionsexemplar!
Aus dem Englischen von Julia Wolf
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